Ein Expeditions-Reisebericht von Clemens Ratschan
ZWISCHEN JANA UND LENA
Teil 1: Über alle Berge
Normalerweise entscheidet man sich für eine Reisedestination, weil man schon etwas darüber gehört oder gesehen hat. Man beginnt zu recherchieren, findet Informationen, konkretisiert die Route. So lief es auch bei meinen bisherigen Fischerei-Expeditionen – diesmal aber genau umgekehrt: Kaum Informationen, mit Ausnahme einer Handvoll gescannter, alter Analogfotos keine Bilder in Google Earth. Ich finde nur zwei russische Berichte über eine Durchquerung und eine Ski-Expedition aus den 1980er Jahren. Aus einem riesigen Gebiet, doppelt so groß wie Österreich – dem Werchojansker Gebirge. Dieser Gebirgszug im Nordosten Jakutiens ist mit 1200 km genau so lang wie der gesamte Alpenbogen, erreicht aber nur knapp 2.400 m Höhe. Er liegt zwischen der Lena im Westen und dem weniger bekannten Strom Jana im Osten. Und dann fand ich dieses Foto, das vier Jakuten mit hoch kapitalen, knallroten Saiblingen zeigt, die beim Eisfischen in einem Gebirgssee in diesem Gebiet gefangen wurden.
Dieses Foto aus dem Internet erleichterte den Entschluss, ins Werchojansker Gebirge zu fahren. Man beachte auch die zahlreichen weiteren Riesensaiblinge am unteren Rand des Fotos. 

Die Neugier ist geweckt: Was ist da los im Werchojansker Gebirge? Wieso verirrt sich kein Tourist, Jäger, Fischer oder Abenteurer in diese Gegend? Ist’s dort uninteressant, gefährlich, das Reisen zu schwierig? Erst gegen Ende unserer fünf Wochen Expedition sollten wir diesen Fragen näher kommen. Doch langsam.

Karten des riesigen Landstrichs werden studiert, Flüsse auf Länge, Gefälle, zu schwieriges Wild- oder zähes Zahmwasser geprüft, und vor allem mögliche Zu- und Ausstiegspunkte gesucht. Schließlich fällt mein Auge auf einen Fluss namens Soboloch-Majan, der auf 100 km Länge mitten durch den höchsten Teil des Gebirges schneidet und dabei besondere landschaftliche Schönheit verspricht, bevor er nach West schwenkt und nach weiteren 300 km in die Lena mündet. Auf Höhe der Quelle, gut ein Grad nördlich des Polarkreises, liegt im Osten des Gebirges die Ewenen-Siedlung Batagay-Alyta. Dieser Ausgangspunkt wird manchmal mit kleinmotorigen Maschinen von Jakutsk angeflogen, der Hauptstadt der Republik Sacha (Jakutien). So wird rasch die Tour-Idee geboren, über einen Pass bzw. die Wasserscheide zwischen der Jana und der Lena diesen Fluss zu erreichen und ihn bis zur Lena hinunter zu befahren. Bei genügend Zeit wollen wir auch versuchen, einen der Gebirgsseen zu erreichen, die weiter vom Fluss entfernt liegen, um dort Saiblinge zu fangen. Leider gelingt weder das Knüpfen von Kontakten nach Batagay-Alyta, noch in das kleine Dorf an der Lena am Ende der Route. Also einfach hinfliegen und versuchen!
So in etwa unser Plan...
So stehen wir also hier: Jakob, Moritz und ich mit 3 Schlauchbooten (kleinen Packrafts) und der üblichen Ausrüstung. In Batagay-Alyta, einem kleinen, im sumpfigen Sommer ziemlich isolierten Dorf im Hügelland zwischen der Jana und den Bergen. Zeit und Proviant sind für 4 Wochen Wildnis bilanziert, doch der Weg bis zu genanntem Fluss ist noch verdammt weit! Wir steuern den Bürgermeister an, doch der sieht keine Option, weiter stromauf Richtung Berge zu kommen: Gleich oberhalb des Dorfs ist im Sommer auch für Kettenfahrzeuge Schluss. Müssen wir also von Beginn an den Fluss stromauf treideln – also die Boote gegen die Strömung ziehen – mehr als 120 km bis zum Pass, mit noch prallvollem 45 kg Rucksack? Schon beginnen wir uns damit abzufinden, als uns ein anderer Ewene unter seine Fittiche nimmt, in einer Hütte unterbringt, mit einem 5 Kilo Brocken gefrorenem Rentierfleisch beglückt und verspricht, Bekannte könnten uns mit zwei von Jetmotoren angetriebenen Booten weit stromauf bringen. In diesem, aus dem Flugzeug andächtig betrachteten Fluss, der sich in einem seichten, breiten Schotterbett verzweigt, das kaum befahrbar scheint. 
„Unser“ Fluss aus dem Fenster des Kleinflugzeugs
Flughafen von Batagay-Alyta
Doch tatsächlich, tags darauf werden zwei Schlauchboote mit Jetmotoren auf die ortsüblichen, alt-sowjetischen Ural-LKW verladen und an den Fluss gebracht. Leider wollen die Boote nicht ins Gleiten kommen, die Beladung ist einfach zu groß. Nach mehrmaligem Hin- und Herladen gelingt es schließlich doch. Die Jetmotoren heulen, spucken weite Wasserfontänen aus und werden so tariert, dass sie unsere Gefährte sogar über nur knöcheltiefe Furten schieben. Und dann geht stundenlang die Post ab – 70 km spulen wir in dem herrlichen Wildfluss ab, bis weit in die Berge hinein. Unsere Stimmung wird mit jedem Kilometer besser – die ganze Strecke hinauf zu treideln wäre pure Knochenarbeit gewesen!
Beladen der Boote
Die Jetmotoren werden mit kleinen Zweigen, die am Heckbrett untergeschoben werden, noch einen cm aus dem Wasser gehoben, um noch seichter fahren zu können

Mit Jet-Booten auf dem Fluss Tara-Sala

Abschied von den Bootsführern
Nach der Trennung von den zwei Bootsführern bleiben also 50 Kilometer, die wir treidelnd, also unsere beladenen Packrafts stromauf ziehend, und marschierend abzuspulen haben. Die Treidelei stellt sich als anstrengend, aber machbar heraus – im Schnitt schaffen wir 12 Kilometer pro Tag. Totholz und steile Ufer nötigen uns ständig zum Wechseln des Flussufers, aber glücklicherweise bleiben uns längere Trage-Etappen erspart, die bei beidufrig tiefem oder stark angeströmtem Totholz unausweichlich wären.
Beginn der Treidelei
Kleine, seichte Nebenarme mit feinem Schotter sind am günstigsten
Schon kleine Totholzhaufen machen die Treidelei langsam und anstrengend

Herrliche Flussstrukturen am zweiten Treideltag

Wir nähern uns dem Hauptkamm des Gebirges bzw. dem Talschluss

Beim zweiten Lager werden die letzten Reste des Rentierfleischs verkocht
Blick Richtung Talschluss
Mehrmals schneidet der Fluss durch so genannte Naleds. Es handelt sich dabei um meterdicke Eisfelder, die in den kalten Tälern jeden Winter an denselben Stellen entstehen. Der geringe winterliche Abfluss tritt hier an der Oberfläche des bis zum Grund gefrorenen Gewässers aus, gefriert und wird so immer dicker. Am dritten Treideltag beschließen wir, ein besonders großes, mehr als 4 km langes Naled zu überqueren, indem wir die Boote darüber ziehen. Im Vergleich zum Treideln auf dem das Eisfeld durchschneidenden Fluss eine gute Entscheidung, denn der höheren Reibung der firnigen Oberfläche stehen das ausgeglichene Gefälle des Naleds, die gerade Marschlinie und die Tatsache gegenüber, dass die am Wasser lästigen Mücken die öde Eisfläche meiden.
Wir erreichen ein 4-5 km langes Naled
Die Packrafts werden über das Naled gezogen
Auch die Rentiere schätzen die mückenfreie Eisfläche
Die Gipfel sind knapp 2.500 m hoch
Am dritten Treideltag, schon fast an der Waldgrenze angelangt, tut sich eine freudige Überraschung auf: Wir treffen auf ein Lager von Rentiernomaden! Drei Generationen einer Ewenen-Familie verbringen alljährlich ab Juni den Sommer hier am hintersten Ende des Tals, bis sie Ende August per Helikopter zum Überwintern bzw. in die Schule wieder nach Batagay-Alyta zurück kehren. Als die Männer ihre Rentiere hinter dem Lager zusammentreiben, kommen wir aus dem Staunen nicht heraus: Es sind 400 Stück, eine enorme Ansammlung dieser beeindruckenden Hirsche des Nordens. Der Anführer der Truppe eröffnet, dass wir die ersten Touristen überhaupt seien, die in dieses Tal gekommen sind. Auch russische Touristen waren noch keine hier, nur einmal im Jahr 1992 seien Japaner mit einem Helikopter hergeflogen. Schon bemerkenswert, dass es so entlegene Plätze heute überhaupt noch gibt! Besonders erfreulich für uns ist, dass wir am nächsten Tag mit Pferden über den Pass reiten können, direkt bis an den Fluss jenseits der Wasserscheide! Das erspart uns eine Menge Zeit und Schufterei und könnte uns Reserven für fischereiliche Unternehmungen bringen!
Ewenen-Lager, Rentiere im Hintergrund
Moritz mit den beiden Männern im Lager
Die jüngste Generation
Die Großmutter ist im Zelt beim Brotbacken
Die Rentiere werden im Flussbett zusammen getrieben (Panoramabild anklicken zum Vergrößern)
Mit Salz lassen sich die sonst scheuen Tiere heran locken

Am nächsten Tag sitzt jeder von uns auf einem Reitpferd, ein zusätzliches Tragtier soll die Gesamtlast pro Tier reduzieren. Dennoch entpuppen sich die Pferde als ziemlich lahme Gäule: Nach der Überwindung des Passes und Abstieg in das weite, schottrige Tal des Sobopol Flusses lässt ihre Kraft und Motivation stark nach, sie bocken und sind nur durch ständiges Absteigen und ziehen zum Durchhalten zu bewegen. Am Abend erreichen wir nur mit Mühe den Punkt, an dem der Fluss gerade tief genug für eine Befahrung erscheint. Unsere beiden Pferdeführer verlassen uns und müssen die knapp 30 km zurück zu ihrer Familie wohl zu Fuß mit den müden Pferden im Schlepptau bewältigen.

5 vor dem Abritt
Ritt im noch trockenen Flusstal
Die Quelle des Sobopol Flusses liegt in dieser Schlucht
Die Pferde hassen das Geröll
Ritt durchs trockene Flusstal

Die Pferde sind am Ende nur mehr schwer vom Fleck zu bekommen
Wir stehen jetzt zu dritt am Ausgangspunkt einer großartigen Flusstour. Das Einzugsgebiet des Sobopol mit dem anschließenden Soboloch-Majan ist mit 13.300 km² etwas größer als jenes des gesamten österreichischen Draugebiets. Es ist aber vollständig unbesiedelt und – wie sich bestätigten sollte – auch im Sommer menschenleer. Nach mehreren Bootstagen ohne jedwede Zivilisationsmerkmale (Lagerplätze, Müll, angeschnittenes Holz etc. fehlen vollständig) stellt sich das besondere Gefühl ein, dass wir die ersten sind, die nach vielen Jahren oder gar Jahrzehnten ihren Fuß in dieses Tal setzen. Was für ein Abenteuer, einen so weitläufigen Landstrich ganz für uns allein zu haben!
Herrliche Flusslandschaft am Beginn der Bootsetappe
Die Boote werden wieder beladen


Zu Beginn vertrocknet der Fluss einmal noch ganz...
... und ist häufig stark verklaust
Dann wächst der Fluss rasch zu respektabler Größe an

Oberlauf des Sobopol am ersten Bootstag (Panoramabild anklicken zum Vergrößern)

Gebirgstal des Sobopol (Panoramabild anklicken zum Vergrößern)
Nach Wildwasserstrecken wird das Wasser...
... durch Umdrehen aus den Booten geleert
Wir legen 80 km mitten durch die Berge in drei Tagen zurück. Ein Berg nach dem anderen zieht an uns vorbei, als würde es ewig so weiter gehen. Die Täler sind mit dicken, knorrigen Lärchen bewachsen, und der rasch fließende Fluss pendelt von einer Talseite zur anderen. Nur die Fischerei lässt noch sehr zu wünschen übrig. Der Fluss bildet zwar traumhafte Strukturen, aber wir sehen weder Fische steigen noch im glasklaren Wasser schwimmen. Wir treffen auf einige voluminöse Pools mit anstehendem Fels, die so vielversprechend aussehen, dass wir uns gar nicht vorstellen können, dass darin kein riesiger Sibirischer Taimen hausen könnte. Voller Optimismus wird die 10er Rute montiert und voller Herzklopfen ein großer Streamer durch den Kolk gezogen – leider findet er aber keinen Interessenten. Trotzdem wichtig, es versucht zu haben. Denn wären wir einfach weiter gefahren, hätte das Wissen, möglicherweise eine Chance vertan zu haben, noch Tage später am fischereilichen Selbstvertrauen genagt.
Elch statt Fisch
Sibirisches Schneeschaf statt Fisch
Trockenfliegenfischen auf Miniäschen
Der Oberlauf friert wohl in wenigen Wochen zu und die Fische wandern im Herbst zum Überwintern in den Mittel- und Unterlauf. Wir hoffen sie dort zu finden. Nach 40 km stoßen wir an manchen Stellen auf die ersten Fische, es sind Schwärme von kleinen Arktischen Äschen, die sich mit der Trockenfliege in großer Zahl überlisten lassen. Am Abend bessern sie die Kost auf, die bisher durchwegs aus Rentierfleisch bestanden hat.
Mit so einer Äschen-Strecke sollte man sich zuhause nicht erwischen lassen

Den überwiegenden Teil des Lena-Einzugsgebietes besiedelt die so genannte Lena Äsche, Thymallus baicalolenensis. Am Unterlauf nahe des Lenadeltas und in den benachbarten Zubringern des Nordpolarmeers lebt hingegen die Arktische Äsche (Th. arcticus) im engeren Sinne. Die Vielfalt der etwa ein Dutzend umfassenden Äschenarten Sibiriens und des Fernen Ostens wurde erst in den letzten Jahren bis Jahrzehnten fundiert aufgearbeitet, wobei sich der tragischerweise im Vorjahr verstorbene, russische Fischforscher Igor Knizhin besondere Verdienste erwarb. Die beiden an der Lena vorkommenden Arten können anhand der Form der Schnauze und der Rückenflosse, von Färbungsmerkmalen des Körpers und vor allem der Rückenflosse sowie durch die DNA unterschieden werden. Die am Sobopol vorkommende Lena-Äsche bleibt in der Regel unter 35 cm Länge. Das größte von uns vermessene Exemplar im Gebirgsfluss Sobopol maß 32,5 cm.
Lena-Äsche; Merkmale (im Vergleich zur Arktischen Äsche): Maul stumpf; Rückenflosse im vorderen Teil hoch mit maximal 5 Fleckenreihen; Kiemendeckel purpur gefärbt

Als wir am Abend des dritten Bootstags die Mündung des großen Zubringers Mjachen erreichen, stellt sich für uns eine wichtige Frage: Wollen wir mit den Packrafts gleich weiter stromab fahren, sodass wir für die 315 km-Etappe bis zur Lena viel Zeit haben würden. Oder doch die unbequemere, ambitioniertere Variante versuchen, ob wir über das Tal des Mjachen und einen Pass den Lybalach See am Ostrand des Werchojansker Gebirges erreichen können. Angesichts des groben Kartenmaterials und enger Schluchten ist nicht klar, ob das Gelände geeignet und das Unterfangen umsetzbar wäre. Ein Abstecher zu diesem See wäre aber insofern äußerst spannend, als es dort riesige Arktische Saiblinge geben könnte. Siehe das eingangs gezeigte Foto, auf dem Jakuten mit einer großen Zahl knallroter, beim Eisfischen gefangener Saiblinge posieren. Wir entscheiden uns für diese Variante und sortieren Ausrüstung samt den Booten und Proviant für eine Woche in die Rucksäcke.
Mündung des Zubringers Mjachen
(Panoramabild anklicken zum Vergrößern)
Den Rest hängen wir hoffentlich bärensicher in einen Baum und hoffen, ihn nach der Rückkehr wieder unversehrt anzutreffen. Spannend wäre es gewesen, direkt darunter eine Wildkamera aufzustellen. Würden die den vielen Spuren nach zu schließen fast allgegenwärtigen Braunbären versuchen, unseren Proviantsack zu plündern, und würden sie dabei zirkusreife Nummern aufführen? 
Der Proviantvorrat wird (hoffentlich) bärensicher in einen 
Baum gehängt
Ob wir den See erreicht haben, wie es uns dort ergangen ist und ob Bären unser schwebendes Depot erbeutet haben, wird im zweiten Teil zu lesen sein...
***


Hier geht es weiter zum 2. Teil mit der spannenden Fortsetzung dieses außergewöhnlichen Reiseabenteuers und mit richtig tollen Fischen... =>



Ein Reisebericht in drei Teilen von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de - März bis Mai 2017. Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten.
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