Ein Reisebericht von Clemens Ratschan
Über das Sichote-Alin Gebirge
Teil 1: Aufbruch (und Schiffbruch)
Kommt man als Abenteurer schön langsam in die Jahre, und hat schon dies und das gesehen, gerät man bei der Planung einer neuen Tour in eine luxusproblematische Zwickmühle: Einerseits fällt es schwer, schon bereiste und lieb gewonnene Traumregionen loszulassen. Andererseits gibt’s die eine oder andere geografische Lücke, die man gerne noch mit einer Reise füllen würde. Das Bedürfnis, ganz große Abenteuer in noch gänzlich unbekannte Regionen zu unternehmen, nimmt aber spürbar ab – nenne man es sinkenden Testosteronspiegel, zunehmende Bequemlichkeit oder positiv formuliert Vernunft. Optimal wäre also eine Destination, die alles befriedigen könnte – Lückenschluss, fischereiliches non plus ultra und „Abenteuer medium“ in einem..
Karte mit den erwähnten geografischen Bezeichnungen
Hier kommt die Amur-Region im Fernen Osten Russlands ins Spiel. Bereits 2008 bereist, konnte ich den dort gelegenen Traum-Fluss Koppi damals aus organisatorischen Gründen nicht erreichen, es blieb also noch eine Rechnung offen. Die Fischart, die diesen Fluss neben seiner naturräumlichen Schönheit und Unversehrtheit zu einer so begehrenswerten Destination macht, den Sachalin-Taimen oder Wanderhuchen, konnte ich zwischenzeitlich auf der namensgebenden Insel Sachalin kennenlernen (siehe Reisebericht Nr.362). Dort kam ich zum Schluss, dass es sich bei diesem Salmoniden um die attraktivste Fischart handelt, die man sich nur vorstellen kann. Das hängt neben den optischen und fischereilichen Qualitäten wohl auch damit zusammen, dass sie heute so selten geworden ist. Im Koppi kommt der weltweit wahrscheinlich noch beste Bestand dieses Raubfisches vor, wenngleich er auch hier durch Überfischung auf einen Bruchteil geschrumpft ist.
Ich überlege also, wie man eine Befahrung dieses Flusses realisieren könnte. Die entscheidenden Parameter sind dabei der Ein- und der Ausstieg. Zweiterer ist einfach, führt doch ein Stück vor der Mündung eine Brücke über den Fluss, wo über eine Schotterpiste die 100 km entfernte Kleinstadt Sovjetskaja Gavan erreichbar ist. Bei günstigen Bedingungen könnte auch eine Bootsfahrt entlang der steilen Meeresküste als Rückweg in die Zivilisation dienen. Bleibt die Frage nach dem Einstieg. Hier fallen im Luftbild helle Linien auf, die in abgeholzten Teilbereichen dieser Waldregion bis in die Nähe des Oberlaufs reichen – es handelt sich zweifelsfrei um Forststraßen. Ob und womit diese zu begehen oder zu befahren sind, kann ich leider nicht herausfinden. Also möchte ich es mit dem Mountainbike versuchen. Zuhause ja ein klassisches Fortbewegungsmittel auf Forststraßen (wobei sich hier wie dort die Frage der Legalität stellt), bietet ein geländegängiges Rad bei unbekannten Verhältnissen eine gewisse Flexibilität. Die Überquerung von Gebirgen, auf der einen Seite hinauf, auf der anderen per Boot hinunter, hat sich bei vergangenen Reisen als besonders lohnend erwiesen. 
Deshalb möchte ich vom Amur, auf der Nordwestseite des Sichote-Alin Gebirges starten, aus dem sich der Koppi nach Osten ins Japanische Meer ergießt, sodass sich die Rad- und Bootsstrecke zu einer Route vom Amur über die Berge bis zum Meer verbindet. Das Problem des hohen Gewichts – zu Beginn der auf vier Wochen anberaumten Tour ist von einem Gesamtgewicht von mehr als 40 kg exkl. Rad auszugehen – möchte ich durch Verwendung eines Rad-Anhängers lösen.
In Chabarowsk am Amur wird also ein günstiges Mountainbike gekauft (der Anhänger war im Flugzeug mit), und Proviant gebunkert. Dann geht’s per Taxi noch 220 km den Amur stromab bis zur Siedlung Lidoga. Die Zusammenführung des Gepäcks, die Beladung des Anhängers und der Satteltaschen gestaltet sich spannend – wird ein sinnvolles Radfahren damit überhaupt noch möglich sein? Die Antwort ist ein klares jein: Also rollen tut das unförmige Gespann schon, aber die schwankende Fahrt würde ein Beobachter intuitiv wohl eher mit Wodka in Verbindung bringen als mit Radsport.
Mit Rad, Satteltasche, Rutenrohr und Anhänger in Lidoga
Kreuzung: 324 km von Lidoga bis Vanino
Meine rollend-wankende Bändigung des störrischen Drahtesels nimmt also am Amur ihren Lauf, wo die Lidoga-Vanino Straße rechtwinkelig abzweigt. Dieser asphaltierte, breit angelegte Verkehrsweg wurde erst in den 1990er Jahren errichtet und verbindet eine bis dahin völlig abgeschiedene Region im Zentrum des Sichote-Alin Gebirges mit dem Amur und den Orten an der Küste. Auf mehr als 300 km dieser Straße gibt es keinerlei Siedlungen, dafür Hügel, artenreichen Mischwald und die letzten Sibirischen Tiger. Die von zuhause vertraute Radlerei hier im nebelverhangenen Urwald empfinde ich als ähnlich sonderbar wie die Kombination von Einsamkeit und gut ausgebauter Straße. Das Verkehrsaufkommen ist bescheiden, vielleicht jede halbe Stunde passiert ein LKW, oft schwer mit dicken Baumstämmen beladen. Schon bei geringen Steigungen lege ich den kleinsten Gang ein, und schleppe mich bergauf; fällt die Straße, wage ich kaum auf mehr als 20 km/h zu beschleunigen, denn beginnt mein Gespann zu schwingen, so wäre Asphalt-Ausschlag die nur schwer vermeidbare Konsequenz.
Paff macht es aber aus einem anderen Grund, und zwar schon drei oder vier Stunden nach dem Start: Durch die übermäßige Beladung hat sich die Achse des Anhängers verwunden und das Rad läuft schief, sodass sich der Mantel auf großer Fläche aufgeschunden hat. Der Reifen ist platt und der Anhänger schlägt am Asphalt auf. Allein unterwegs hatte ich keine Möglichkeit, das schiefe Laufrad hinter dem Berg an Ladung zu sehen. Der undichte Schlauch lässt sich rasch kleben, aber in Anbetracht des offenen Mantels wird der nächste Platte nur wenige Kilometer auf sich warten lassen. Ob und wie ich damit die nach den verbleibenden 160 km abzweigende Forstrasse erreichen und weiter Richtung Koppi zurücklegen könnte, ist zu diesem Zeitpunkt schleierhaft, aber aufgeben tut man bekanntlich ja nur einen Brief.
Plattes, geklebtes Laufrad 
Ich entscheide mich für Autostopp und schwenke den kaputten Reifen bei jedem passierenden Fahrzeug. Schon das zweite bleibt stehen, es handelt sich um einen schweren LKW. Aus dem Fenster blickt ein freundlicher Fernfahrer, der aus Smolensk stammt, im europäischen Teil Russlands nahe der weißrussischen Grenze. Gemessen an der Distanz bis hierher also von „fast zuhause“. Er ist mit einer Ladung Stahlträgern von St. Petersburg aus zur Insel Sachalin unterwegs, zurück wird er ohne Ladung fahren. Unterwegs wurde er von einem österreichischen Schwarzfischer mit einem Platten per Autostopp angehalten. Schon seltsam, was die Globalisierung so mit sich bringt.
Autostopp
Netter Trucker
Rad, Anhänger und Packtasche verstauen wir also auf den Stahlträgern im Laderaum, und machen uns auf den Weg aus dem Hügelland in die Berge. Hoch im Führerhaus sitzend genieße ich den landschaftlich herausragenden Teil der Straße besonders, der den Fluss Anjui und dessen Zubringer Gobilly entlang führt, wo ich 2008 eine Bootstour von der Westseite des Sichote-Alin Gebirges gestartet habe (siehe Reisebericht Nr.277). Nach der Überquerung des Passes erreichen wir am Abend die Kreuzung, wo die angepeilte Forststraße abzweigt, und der Fahrer setzt mich ab. Den kaputten Anhänger lasse ich zurück und erkunde mit dem Rad die Umgebung. Aus den Bergen kommend fließt hier der glasklare Fluss Buta durch, wunderschön mit Nebelschwaden über dem Wasser, und ein Lagerplatz ist rasch gefunden. Jetzt stellt sich die Frage, wie ich mich ohne Fahrrad-Anhänger weiter Richtung des Koppi-Zubringers Iggu fortbewegen kann. Eine Variante könnte sein, die halbe Last in die Satteltaschen zu laden und damit zweimal Richtung Ziel (und einmal leer retour) zu radeln. Eine andere Variante wäre, soviel wie irgend möglich in die Satteltaschen zu laden, und den gesamten Rest in den Rucksack. Radfahren wäre mit so hohem Gewicht zwar nicht mehr möglich, aber schiebend könnte ich mich fortbewegen und auf der Strecke auf ein Fahrzeug hoffen, das mich mitnimmt. Ich entscheide mich für diesen Plan, doch schon als ich mit dem Abbrechen des Lagers unweit der Schotterstraße fertig bin höre ich ein nahendes Fahrzeug. Sofort springe ich zur Straße und halte es an, es handelt sich um einen voll besetzten Minibus, in dem vier verdutzte Forstarbeiter mit viel Gepäck sitzen. Sie sind unterwegs zu einem Schlag in der Nähe des Anjui-Oberlaufs, fahren also ein gutes Stück Richtung Iggu. Wie es aussieht versorgt diese Haupt-Forststraße ein riesiges Stück der Wälder des zentralen Sichote-Alin Gebirges.
Die Arbeiter können mich leider aus Platzgründen nicht mitnehmen, wohl aber den Rucksack. Sie versprechen, diesen ca. 40 km weiter an einem Schranken abzulegen, wo ich ihn – mit dem Rad nachkommend – wiederfinden würde. Vertrauen fasse ich in die netten Russen sofort, und so bin ich froh über diese überraschende, bequeme Wendung. Der Plan wird mit sehr rudimentären Sprachkenntnissen vereinbart, was nur deshalb gelingt, weil das russische Wort für den erwähnten Schranken lustigerweise [schlagbaum] heißt. Die russische Sprache bedient sich einiger Lehnwörter aus dem Deutschen, die dem Sprachneuling einen einfachen und auch lustigen Startvorteil bringen. Nicht nur beim wohl eher selten zu gebrauchenden schlagbaum, auch bei [burgomistr], [buterbrod], [marschrut] oder [rjuksak] wird der Deutschsprechende sofort verstehen was gemeint ist.
Die Forstarbeiter
Auf der Forststraße
Das Befahren der überraschend breiten, gut ausgebauten Forststraße mit dem Mountainbike und vergleichsweise leichtem Gepäck wird zum reinsten Vergnügen, und im Nu habe ich etwa 30 km zurückgelegt, als ein Gewitter mit heftigem Platzregen einsetzt. Exakt in diesem Moment naht ein Geländewagen – das einzige Fahrzeug bisher – und ein lachender Russe kurbelt die Scheibe herunter um mir die Mitfahrt anzubieten. Was für ein Glück! Es dürfte sich um einen Forstarbeiter höheren Rangs handeln, und als ich ihm auf der Weiterfahrt meine Pläne erkläre, lacht er immer mehr und meint, mich würden in kürzester Zeit die Bären fressen, von denen es hier Unmengen gäbe. Er versucht mir aber nicht nur Angst einzujagen (verständlich, würden wir es mit auf eigene Faust abseits der Wege wandernden, ausländischen Touristen in den Alpen nicht genauso tun?), sondern schenkt mir netterweise ein Pfefferspray zur Abwehr der Bären, über das ich im weiteren Verlauf meiner Route einmal sehr froh sein werde. Beim Schlagbaum steht ein Container, und daneben tatsächlich mein Rucksack. Wir werden von den Schranken-Wächtern auf einen Tee eingeladen. Als der starke Regen endlich nachlässt, bietet der Forstarbeiter an, mich weiter bis zum Iggu- Flüsschen zu bringen. Nie hätte ich mir gedacht, dass die Strecke bis an diesen entlegenen Punkt so leicht zu schaffen sein würde!
Auf immer enger werdenden Forststraßen fahren wir also noch vielleicht 20 km weiter, als wir als Endpunkt eine Brücke über den Iggu erreichen. Zum Dank beschenke ich den darüber sehr erfreuten Fahrer mit dem Rad, das ich ja nicht mehr brauchen würde, und auf dem winzigen Packraft nicht mitnehmen könnte. Dann beginne ich meine Ausrüstung zu sortieren, das Boot aufzublasen und zu beladen. Der Fluss weist bei etwas erhöhtem Abfluss von geschätzt 5 m3/s schon eine ausreichende Größe auf. Ich versuche aber das aufkommende Hochgefühl – schließlich stehe ich am Beginn einer großartigen Bootstour bis hinunter zum Meer – zu zügeln, denn ich weiß: Es ist mit dem Schlimmsten rechnen, und zwar aufgrund der in so einem Waldflüsschen zu erwartenden Verklausungen durch quer liegende Holzstämme. Dass die schlimmsten Erwartungen der Realität nicht gerecht werden sollten, sondern eher die allerschlimmsten, würde ich erst einige Stunden später realisieren.
Der Beschenkte
Start am Iggu
Nachdem ich also mit dem voll beladenen Packraft ablege, lässt sich der Iggu einige hundert Meter ganz problemlos befahren. Doch der positive erste Eindruck täuscht, schon beginnen die Schwierigkeiten. Es zeigt sich, dass hier alle 50 bis 200 m, teils auch noch dichter, Bäume quer über dem Gewässer liegen, meist große Pappeln oder die hier oben häufigen Nadelhölzer. Teils werden sie überströmt und können überfahren werden, meist ist aber Umtragen nötig und oft sind sie zu langen, Mikado-artigen logjams verklaust, sodass weite Umgehungswege notwendig sind. Es gilt also über Böschungen und Stämme zu klettern, den Weg durch Hochstauden und teils dorniges Gestrüpp zu bahnen, kleine Nebenarme mit Schlamm oder weiteren Verklausungen zu queren etc., und das angesichts des umfangreichen Gepäcks plus Boot gleich zweimal pro Hindernis. Zu Beginn hält die Euphorie noch an, denn nach jedem Hindernis – das ja in der Theorie wie ein Filter für Totholz wirken sollte – hoffe ich auf eine längere Bootsstrecke wie nach dem Einstieg, doch das spielt’s nicht mehr. Also gilt es einen Rhythmus zu finden, der diese schweißtreibende und etwas nervenaufreibende Fortbewegungsart stundenlang durchhalten lässt. Dabei ist volle Konzentration gefordert, denn der Bach fließt rasch und ist durch die geringe Breite bzw. die starken Krümmungen schwer einzusehen. Die Befahrung wird dadurch brandgefährlich, zu schnell könnte man hier das Boot zerstören oder nach dem Kentern in ein Totholzbündel gezogen werden, unter Wasser hängen bleiben und ertrinken.
Eine Goldene Regel beim Befahren solcher Wildflüsse ist, die Beladung ausnahmslos immer fest mit dem Boot zu verzurren. Eigentlich halte ich mich auch immer daran, nicht aber dieses eine Mal, als ich nach dem Umtragen einer Verklausung den schweren Rucksack auf das Boot werfe und keine 100 m weiter die nächsten Bäume erblicke, die schon wieder umtragen werden müssen. Eine fatale Entscheidung. Ich steige ob der kurzen Strecke nicht ins Boot, sondern führe es watend stromab, wobei ich es mehrfach vom Ufer abstoße, um es an Hindernissen am eigenen Ufer vorbei zu bringen. Schon tausendmal gemacht und total safe. Doch dieses eine Mal befindet sich auch am gegenüberliegenden Ufer ein Wurzelstock, und ich schubse das Boot ein klein wenig zu stark, sodass das Boot dort anstößt, sich zwischen den Hindernissen dies- und jenseits verklemmt und in der schießenden Strömung blitzschnell umgedreht wird. Ich kann das gekenterte Boot in der Strömung nicht mehr halten, sodass der große Rucksack, ein weiterer Packsack, Rutenrohr, Fototasche, Fischertasche und Boot, insgesamt also sechs Gegenstände, getrennt den Fluss hinuntergerissen werden, und zwar auf die nächsten quer liegenden Bäume zu. Mir ist sofort klar, dass ich mich von einer auf die andere Sekunde in einer äußerst brenzligen Situation befinde.
Es klingt klischeehaft, aber entspricht nun mal am ehesten den Empfindungen: Im Kopf läuft ein Film ab, der die wenigen und durchwegs bitteren Optionen visualisiert: Eigentlich sollte ich – jetzt mitten im eiskalten Bach schwimmend – schleunigst raus, um nicht in ein Hindernis gerissen zu werden und zu ertrinken. Die Ausrüstung wäre dann wohl verloren und die Reise zu Ende. Irgendwie könnte ich mich wohl zu den Wächtern am Schranken zurückschlagen. Option B wäre, so schnell wie möglich nachzuschwimmen und zu versuchen, die lebensnotwendige Ausrüstung zu bergen.
Und dazu entscheide ich mich, erreiche kurz vor den querliegenden Bäumen das Boot und erhasche zwei kleine Taschen, die ich auf die Verklausung schiebe bzw. werfe. Dann werde ich selbst von der Strömung gegen das Holz gedrückt, kann nur schwer atmen, erreiche mit den Zehenspitzen den Grund und kann so verhindern, unten durch gezogen zu werden. Urschreie ausstoßend weckt der Überlebenswille ungeahnte Kräfte, sodass ich mich seitlich aus der Strömung schieben und nach zähen, bangen Sekunden über die Bäume wuchten kann, während ich mit zunehmender Verzweiflung den um die nächste Krümmung verschwindenden Säcken nachblicke. Darin befindet sich alles, was man als durchnässter Mensch in der baldigen Nacht rasch und dringend benötigen würde. Also nach den Querbäumen sofort wieder ins Wasser und teils schwimmend, teils watend so schnell es geht um die Krümmung, um wieder Sichtkontakt herzustellen. Mist, der Fluss verzweigt sich! Wo ist der (leider schwarz-grün gut getarnte) Rucksack abgezweigt? Ich entscheide mich für links und habe Glück: Er hängt sichtbar in diesem Flussarm in einer Fichte, und gleich dahinter der zweite Packsack. Die Wassertiefe und die Strömung sind dort nur mäßig hoch, sodass ich die Stelle erreichen kann, eine Schnur am Rucksack befestige und ihn so ans linke Ufer abschleppe. Dann quere ich sofort zurück zum Packsack und berge auch diesen. In diesem Moment realisiere ich, welch unwahrscheinliches Glück ich hatte, diese Situation unbeschadet überstanden zu haben!
Das Boot liegt auf den Querbäumen
Blick von den Querbäumen stromab - hier bin ich den Säcken nachgeschwommen
Doch noch ist es zu früh zum Durchatmen, ich hetze durch das Unterholz die paar hundert Meter stromauf und finde zum Glück auch das Boot und die anderen Gegenstände noch auf den Querbäumen vor. Geschockt von dem Erlebnis und bibbernd vor Kälte baue ich ein Lager auf und hänge das nasse Zeug zum Trocknen auf. Der Gedanke, am nächsten Tag wieder in diesen gefährlichen Fluss steigen zu müssen - der anhaltende Regen lässt das Gewässer weiter anschwellen - bereitet großes Unbehagen. Der Blick auf das GPS gibt auch nicht gerade zu Freudenstürmen Anlass, denn in drei Stunden Schufterei im gewundenen Bach konnte ich nur extrem enttäuschende 820 m Luftlinie zurücklegen! Bei diesem Schneckentempo bilden auch die nur 15 km Luftlinie bis hinunter zum Koppi eine nur schwer überwindbare Barriere. Wenn es so weiterginge, würde ich dafür eine ganze Woche benötigen!
Hier ist der Rucksack hängen geblieben
Rucksack und Packsack im Holz
Lager nach dem Malheur
Glücklicherweise sind die wichtigsten Gegenstände trocken geblieben. Ganz entscheidend bei so einer Bootsexpedition ist, alles in wasserdichten Packsäcken zu verstauen, essentiell den Schlafsack und den Proviant, wichtig natürlich auch die Fotoausrüstung und Bekleidung. Am nächsten Tag ist an ein Befahren des Flüsschens nicht zu denken, es ist um weitere 20 bis 30 cm gestiegen, braun und reißend. Was tun? Auf dieser Höhe gibt es parallel zum Iggu noch Reste einer Forststraße, die allerdings isoliert sind, weil Brücken bei Hochwasser verrissen wurden. Mein Plan ist, mich durch die Au bis zu einem am Talrand gelegenen Straßensegment durchzukämpfen und auf diesem zu Fuß weiter zu marschieren, bis zu einem Punkt möglichst nahe am Koppi. Durch das Kentern und den andauernden Regen sind der Rucksack und Teile der Ausrüstung nass und wiegen wohl 50 kg oder mehr. So ein Gewicht kann man auf keinen Fall in einem Aufwasch bewegen, schon gar nicht durch einen Urwald voller Hindernisse. Es steht also Marsch „im Expeditionsstil“ mit humanen ca. 25 kg Gewicht an, etwa zwei Stunden vor, leer zurück, und ein zweites Mal Richtung Ziel, wo dann die nächste Schicht startet. Als erstes Zwischendepot wähle ich eine weitere, verrissene Brücke, wo ich das Packraft für eine Überquerung benötige.
Aufbruch durch den Auwald
Marsch auf der Forststraße
Als ich auf der anderen Talseite bei der zweiten Marsch-Schicht das nächste Zwischenlager erreiche und eine Plane als Regenschutz aufspanne, höre ich ein Motorengeräusch, drehe mich um – und sehe hinter mir einen Geländewagen, aus dem ein in typisch russischer Art Vollcamouflage tragender Jäger samt Gewehr steigt. Er ist ebenso überrascht wie ich – er trifft das erste Mal hier in seinem Jagdrevier einen Touristen, und ich hatte gedacht, dass die Straße hierher nicht befahrbar wäre. Offensichtlich gibt es eine weitere Möglichkeit, über die Berge dieses Segment der Forststraße zu erreichen. Der Jäger lädt mich in seine nur wenige Kilometer entfernte Jagdhütte ein. Ich nehme das Angebot dankend an, bietet das doch eine perfekte Möglichkeit, mein Zeug zu trocknen. Es könnte auch sehr interessant sein, wie der Waidmann lebt und was er über die Tierwelt hier zu erzählen weiß. Wir holen die zweite Hälfte vom Zwischenlager, und zweigen einen sumpfigen Weg ab, der jetzt im Sommer fast unbefahrbar ist. Am Ende findet sich eine Blockhütte, die aussieht wie aus dem 19. Jahrhundert. Der Russe lebt hauptberuflich von der Jagd, verwendet insgesamt fünf oder sechs solcher Hütten, er erlegt vor allem Hirsche. Die lockt er mit Salz an eine Kirrung, was bei langanhaltendem Regenwetter wie jetzt nur schwer möglich ist, darum ist er mit dem Jagderfolg nicht zufrieden. Nur zwei Kilometer von dieser Hütte entfernt hat er unlängst einen Tiger gesehen. Die letzten ca. 500 bis 600 Sibirischen Tiger haben in den entlegenen Mischwäldern des Sichote-Alin ihre letzte Zuflucht gefunden und erreichen in der Gegend am Koppi ihre nördliche Verbreitungsgrenze. Die Jäger hier sehen Tiger als Beutekonkurrenten. Ob mein Gastgeber auch dieses streng geschützte Raubtier erlegt, frage ich erst gar nicht. Wie mehrfach auf dieser Reise bewährt es sich bei Kontakten zu den Einheimischen sehr, allein unterwegs zu sein. Naturverbundende Menschen begegnen einem so mit großem Respekt, die übrigen halten einen für verrückt, allesamt sind sie sehr hilfsbereit. Mein Gastgeber kennt auch den Koppi Fluss perfekt und kann mir viele Details über die bevorstehende Strecke verraten.
Jäger hebt Geländewagen
Die Jagdhütte
Am nächsten Morgen starte ich – etwas nervös, wie sich Wasserstand und Befahrbarkeit wohl entwickeln – mit dem Boot direkt vor der Hütte. Der Iggu ist hier schon deutlich breiter und besser einzusehen, Verklausungen sind aber noch häufig, wenn auch in Abständen von vielen hundert Metern bis zu wenigen Kilometern. Bei der Portage des ersten Querbaums geschieht schon wieder ein großes Missgeschick, ich stürze auf das Paddel und es bricht. Die Nerven liegen blank, wie soll ich ohne Paddel so einen gefährlichen Fluss befahren? Glücklicherweise lässt es sich mit Tape und Schlauchklemmen reparieren und hält den Rest der gesamten Reise. Am folgenden Lagerplatz kommt erstmals auf dieser Reise ein Gefühl der Unbeschwertheit und Freiheit auf, und ich kann die Situation alleine in der Wildnis unterwegs zu sein richtig auskosten. Ich entfache ein Feuer – trockenes Treibholz ist trotz der nassen Witterung unter den vielen liegenden Stämmen problemlos zu finden. Und dann wird erstmals die Fliegenrute zusammengesteckt und versucht, die Standplätze und Köderpräferenzen der lokalen Fischfauna herauszufinden, was sich bei einem neuen Gewässer immer als besonders spannend gestaltet. Die hier vorkommenden Äschen stehen in recht rascher Strömung und zwei drei Exemplare lassen sich mit Nymphen rasch überlisten.
Das gebrochen Paddel … lässt sich zum Glück reparieren
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Verklauster Iggu
Lagerfeuer-Romantik am Iggu
Erste Äsche aus dem Iggu

Am Abend bringt eine Messung ein überraschendes Ergebnis: Die Wassertemperatur beträgt jetzt, am 22. Juni und 450 m über dem Meeresspiegel, nur 3°C! Auch weiter stromab am Koppi steigt die Temperatur kaum höher, erst im Unterlauf messe ich – trotz der dann deutlich wärmeren Witterung – maximal 7°C. Vermutlich ist der Boden in den Bergen noch nicht vollständig aufgetaut und es tritt dort eiskaltes Wasser aus. Nicht verwunderlich also, dass der karge Fluss hier oben vor der Ankunft der anadromen Lachse nur einen eher spärlichen Fischbestand aufweist. Während der Förster meinte, dass hier Buckellachse aufsteigen und deshalb Unmengen an Bären zu erwarten sind, wusste der Jäger, dass die Lachse weiter in den Koppi-Oberlauf ziehen und nicht in den Iggu abzweigen.
Wohnung mit Garage
Verflixter Iggu!
Einzelne Querbäume kann man rasch umtragen
Eindruck aus dem Iggu-Unterlauf
Am zweiten Bootstag komme ich mit nur noch wenigen Totholz-Portagen bis auf ca. 2 km an die Mündung in den Koppi heran, als ich auf besonders gefährlich aussehende, enge und extrem schnell durchströmte Verklausungen treffe. Ich beschließe, auf keinen Fall ein Risiko einzugehen und den nahen Koppi am besten marschierend zu erreichen. Um einen Überblick zu bekommen, besteige ich eine Blockhalde, sehe aber nur dichten Auwald, der wohl noch nie abgeholzt wurde. Durch die Verklausung wird der Iggu aufgestaut und ein Teil fließt mitten durch den Wald, es bietet sich hier die sonderbare Fortbewegungsart „Boot durch den Wald stromab ziehen“ an.
Schon wieder verklaust
Portage
Treideln durch den Wald ...


Weiter unten treffe ich wieder auf einen befahrbaren Iggu-Abschnitt, als sich der Fluss schon wieder verengt und durch beiderseits steile, verholzte Ufer ohne Möglichkeit zum Aussteigen und Besichtigen dahinschießt. Ich entschließe mich für das mühsame aber sichere Umtragen über einen trockenen Nebenarm. Eine sehr weise Entscheidung, denn als ich mir die Stelle von unten ansehe wird mir klar, dass der schießende Arm gleich um die Kurve, nicht einsehbar, vollständig verklaust ist und durch einen Totholzhaufen braust. Eine tödliche Falle! Und tatsächlich, mitten in dem Haufen hängt ein zerfetztes Schlauchboot. Hoffentlich ist hier kein unglücklicher Bootfahrer ums Leben gekommen!
Fremdes Boot im Logjam
Ein kleines Stück weiter erreiche ich schließlich sicher und glücklich die Mündung in den Koppi und bin hoch erfreut, dass dieser wider Erwarten klares Niederwasser führt. Die wunderschöne Stelle ist von Uferanrissen mit hohen Bäumen gesäumt und weist eine große, freie Kiesfläche mit praktischen Feuer- und Lagerholzhaufen auf, wo ich mein Zelt aufschlage. Wo sich die beiden Flüsse mischen, bildet sich eine extrem fisch-verdächtige Stelle, und schon nach wenigen Würfen fange ich einen schönen Saibling. Wenig später beißt der Herr des Kolkes, ein kampfstarker Saibling von 51 cm Länge, etwa 3 Pfund Gewicht, und wunderschöner Färbung mit gelbem Maul und Bauch sowie feinen roten Tupfen auf den Flanken. Letzteres ist typisch für den Dolly Varden Saibling, wobei hier die südliche Unterart vorkommt, Salvelinus malma krascheninnikovi. Auch einige Äschen sind schnell zu fangen.
Letzer Baum im Iggu und Mündung in den Koppi
Erster Fang und Herr des Kolkes
Iggu-Mündung in den Koppi
Schon der berühmte Erforscher der Wälder zwischen Chabarowsk und Wladiwostok, Wladimir Arsenjew, beschrieb in seinem lesenswerten Bericht über eine Expedition im Jahr 1927 dieses Gebiet, und erwähnte, dass an der Mündung des Iggu in den Koppi eine große Zahl farbenfroher Äschen gefangen wurden. Erst viel später beschrieben Knizhin, Antonov & Weiss (2006) diese Äsche, Thymallus grubii flavomaculatus, als Unterart der Amur-Äsche. Sie kommt in einem vergleichsweise kleinen Areal im nördlichen Sichote-Alin Gebirge und in südlichen Zubringern des Ochotskischen Meeres vor. In den größeren Amur-Zuflüssen lebt diese Unterart gemeinsam mit einer anderen Art, Thymallus tugarinae, die 2007 erstbeschrieben wurde, bewohnt aber eher die Oberläufe. Typische Merkmale der am Koppi vorkommenden, wunderschönen Unterart flavomaculatus sind, wie schon der Name verrät, eine gelb-orange Färbung des hinteren Teils der Rückenflosse, sowie orangefärbige Bänder zwischen den Schuppenreihen. Extrem schön finde ich auch die goldgelbe Färbung der bauchseitigen Flanken, die man auch bei der heimischen Europäischen Äsche findet, niemals aber in dieser Intensität.
Gelb-oranger Hinterrand der Rückenflosse
Was für wunderbare Fischarten beherbergt dieser Fluss, eine schöner wie die andere! Dabei stehen die fischereilichen Höhepunkte erst aus, die Haupt-Zielarten Kirschlachs und vor allem der seltene Sachalin-Taimen. Was die Befahrung und Befischung des Koppi bis zur Mündung ins Japanische Meer mit sich bringt, wird im zweiten Teil dieses Berichts zu lesen sein.
Herrliche Fischarten des Koppi: Amur-Äsche; Dolly Varden Saibling; Sachalin-Taimen; Kirschlachs


Was die Befahrung und Befischung des Koppi bis zur Mündung ins Japanische Meer offenbarte, finden Sie im 2.Teil dieses außergewöhnlichen Russisch Fernost Reiseabenteuers:



Ein Reisebericht in zwei Teilen von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de - Februar/März 2019. Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten.
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