Ein Reisebericht von Clemens Ratschan
Zurück in Grönland
Teil 2: Saiblinge und Moschusochsen
Die Lust am Wandern kommt beim Wandern
Zwar ist es schon äußerst interessant, im Vergleich zur Etappe im „Ewigkeitsfjord“ (siehe erster Teil des Reiseberichts) eine so extreme Metamorphose durchzulaufen. Die Bootsstrecke bis hierher zum hintersten Fjord-Ende glich Slacklinen auf der schmalen Uferlinie zwischen den eiskalten Tiefen des Fjordes und den senkrechten Felswänden und Hängegletschern. Bei der weiteren Fortbewegung auf dem nacheiszeitlich steinigen Parcours ins Hinterland fühlen wir uns hingegen eher wie schwer beladene Landschildkröten. 

Doch leider ist dieser Wechsel mit einem massiven Verlust an Lebensqualität verbunden – trug die Last bisher das Meer und der Wind half mit, so tun wir’s nun selbst. Mit Boot, Zelt, Proviant für weitere zweieinhalb Wochen, Foto- und Fischereiausrüstung etc. wuchtet jeder von uns deutlich über 40 kg. Glücklicherweise kennen wir diese Leiden schon und wissen: Mit jedem Tag wird’s besser. Und mantra-artig wiederholt Jakob ironisch: „Die Lust am Wandern kommt beim Wandern“.

Aufbruch zu Fuß
Entlang des brausenden Gletscherflusses
Beim ersten Gletscher-Endsee wird das Packraft aufgeblasen

Wir folgen also der tief eingekerbten Verlängerung des Fjordes, in dem ein steiler, eiskalter und trüber Gletscherfluss fließt. Seitlich brausen Gletscherbäche hunderte Meter herunter und Eisbrüche schicken donnernd ihre weiße Fracht ins Tal. Die Wegfindung wird zu einem Strategiespiel: Der Flusslauf pendelt zwischen den Talseiten hin und her, seitlich stoßen Gletscherzungen samt Seiten- und Endmoränen herunter, dazwischen liegen Endseen sowie wüste Sand- und Steinflächen. Wir finden einen guten Rhythmus, der sich durch den laufenden Wechsel zwischen Marschieren, Boot Aufblasen, und dem Überqueren der Gletscherseen kurzweilig und abwechslungsreich gestaltet. Als elendes Gehgelände stellen sich jüngere Moränen heraus – das lockere, teils grobblockige, teils schluffige Material hat nicht nur die Konsistenz, sondern auch den optischen Charme einer Bauschuttdeponie.
Seitliche Gletscherbrüche
Durchquerung eines weiteren Endsees
Jakob auf dem Weg zum Talschluss
Laut einer Karte aus den 1960er Jahren war das Ende dieses Fjordes damals noch über weite Strecken mit Eis gefüllt, unser heutiger Weg wäre also unmöglich zu bewältigen gewesen. Die Gletscherzungen in diesem Gebiet haben im letzten Jahrhundert im Mittel etwa einen Kilometer an Länge eingebüßt. Wir befinden uns also auf Land, das erst vor einigen Jahrzehnten vom Eis freigegeben wurde. Natürlich ist es etwas inkonsequent, als mit dem Flugzeug unter enormem CO2 Ausstoß angereister Tourist über dieses Thema zu referieren. Trotzdem sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich der Klimawandel in diesen arktischen Regionen besonders drastisch auswirkt.
Über eine Endmoräne zum nächsten Gletschersee
Packraft im letzten Gletschersee
Spannend, ob Wandersaiblinge, also die anadrome Form des Arktischen Saiblings (Salvelinus alpinus), diesen „neuen“ Landstrich schon besiedeln konnten. Eigentlich kann man sich fast nicht vorstellen, dass sie den Fluss durchschwimmen können, den wir entlang marschieren. Denn dieser ist nicht nur trüb und eiskalt, sondern auch äußerst steil und wild. Doch tatsächlich, in einer seen-artigen Weitung sehen wir vereinzelt Fische steigen und fangen am Abend einen Saibling. Und zwar ein knapp 50 cm großes, silbriges Exemplar, bei dem es sich nicht um einen im Süßwasser abgewachsenen Fisch handelt, sondern der offensichtlich frisch aus dem Meer aufgestiegen ist! Zwei Tage später und viele Katarakte höher können wir sogar im letzten Gletschersee am Talschluss noch kleine Saiblinge beobachten. Solche Erkenntnisse sind auch deshalb interessant, weil man hier quasi in Zeitraffer nachvollziehen kann, wie auch die nacheiszeitliche Besiedelung unserer heimischen Alpenseen durch Fischarten wie den heutigen Seesaibling von statten gegangen ist. Man darf das Ausbreitungspotential dieser Fische offensichtlich keinesfalls unterschätzen!
Etwas wärmerer See, der durch eine Seitenmoräne entstanden ist
Zweifelsfrei ein anadromer Saibling
Abbruch des letzten Gletschers – ein Gruß vom Inlandeis
Turmhohe Gletscherfront am Talschluss (Panoramabild anklicken zum Vergrößern)
Am dritten Tag erreichen wir den Talschluss. Leider ist hier kein einfacher Weg frei, sodass wir uns über eine besonders üble Seitenmoräne ein Stück hoch kämpfen müssen, bevor wir den eigentlichen Gletscher betreten können. Doch dieser fließt mit recht gemäßigtem Gefälle vom Inlandeis herunter und dient uns als Eintrittspforte zum Hochland. Bei einsetzendem Regen stellen uns steilere Abschnitte und ins Eis eingeschnittene Gletscherbäche mit rutschigen Böschungen noch vor Herausforderungen, bevor wir am frühen Abend das Hochplateau erreichen und unsere „Hufe“ wieder vom Eis lösen. Wieder über Moränen und gerade vom Eis freigegebenes Gelände erreichen wir endlich Seen, die sich mit den Packrafts weit müheloser durchqueren lassen. Hier tummeln sich eine Menge „Urzeitkrebse“ (Feenkrebse und Kiemenfußkrebse), was dafürspricht, dass in diesen flachen Gewässer keine Fische als Fressfeinde vorkommen. Dann noch ca. 20 km stromab auf einem weiteren Fluß-Seen-System paddeln, bis eine weitere Schlüsseletappe folgt – die nächsten Tage werden wir über einen zerklüfteten Gebirgszug zum so genannten „Paradiestal“ marschieren.
Besteigung der Gletscherzunge am Talschluss
Gletscherbäche sind eine gefährliche Herausforderung
Aufstieg zum Inlandeis
Mondlandschaft auf dem Hochplateau
Endlich wieder Bootfahren!
Lager am See mit den „Urzeitkrebsen“
Urzeitkrebs aus dem warmen Flachsee
Saiblingsbrut aus dem durchflossenen, eiskalten See
Blick zurück zum Inlandeis
Der nächste See verengt sich und wird zum Sarfartoq Fluss
Wilde Stromschnelle – ab hier geht unsere Route ...
... zu Fuß über das Gebirge weiter
Erste Moschusochsen

Die karge, schwierige Strecke über den Gebirgsstock

Schneehasenjagd und erste Saiblinge
Im Gebirge begegnen wir Schneehühnern und Schneehasen. Es mutet schon sehr skurril an, diese im Winter schneeweißen, jetzt im Sommer schmutzig weißen Tiere auf dem braunen oder grünen Fels- und Grasgrund der Gebirgstundra sitzen zu sehen. Nach zwei Wochen Nudeln und Fisch wären uns die schönen Hasen nicht nur als Fotomotiv sehr willkommen, sondern auch als Mahlzeit. Leider findet sich keine „Karotten-Fliege“ in der Schachtel, sodass wir zu primitiveren Methoden greifen. Zuerst werden die nicht allzu scheuen Tundrenhoppler mit dem Teleobjektiv verfolgt. Ist ein gutes Foto im Kasten, folgt zum Dank ein Steinhagel.
Schneehase
Schneehuhn
Moschusochse - Weitwinkel-Aufnahme aus nächster Nähe
Schwierige Wegstrecke
Wir treffen erstaunlicherweise wiederholt auf archaische Steinstrukturen wie Reste von Behausungen und Fleischspeichern, aber auch „Steinmänner“, die in diesem abgelegenen, unübersichtlichen Gelände offensichtlich als Wegmarkierungen errichtet wurden. Wir sind uns recht sicher, dass sie nicht rezent sind. Welche urtümlichen, in Fell gekleideten Gestalten haben die wohl vor hunderten oder gar tausenden Jahren errichtet? Waren es Mitglieder der modernen Thule-Kultur oder noch frühere Menschen aus der paläoeskimotischen Zeit, die in dieser Gegend bekanntermaßen zur sommerlichen Jagd ins Hinterland gezogen sind? Das archaische Erlebnis unserer dilettantischen Jagdversuche auf die Schneehühner und –hasen wird durch diese Funde noch intensiver – schließlich verwenden wir Neuzeitmenschen hier nicht nur dieselben Wege, sondern tun auch fast dasselbe. Zum Glück für die Schneehasen aber ohne Erfolg: Wir hätten wohl ein paar Jahrzehnte früher zu üben beginnen müssen, um in steinzeitlichen Jagdtechniken Meisterschaft zu erlangen. 

An der Nordseite wird der Gebirgsstock von steilen Bachschluchten durchschnitten, in die uns grasige und steinige Böschungen hinunter führen. Bäume gibt es auf Grönland nicht. Wohl fanden wir an wenigen, gut geschützten Stellen im Fjord Erlenbüsche und hier in den Tälern Weidengestrüppe mit armdicken Ästen. Durch diese schinden wir uns hier weiter. Als sich der aus einer Abfolge von Kaskaden bestehende Bach etwas weitet und ein größeres Pool entsteht flüchten bei unserer Annäherung große Schatten – wer hätte erwartet, dass sich Wandersaiblinge bis hierher hochkämpfen? Der Wildbach mündet erst weitere 4 km stromab in den Fluss des „Paradiestals“, der für einen starken Saiblingsaufstieg bekannt ist. In Relation zum kleinen Bach schauen diese Fische riesig aus, sodass richtiges „Fisch-Fieber“ ausbricht. Das kurieren wir tunlichst sofort aus.

„Bushwhacking“
In diesem Pool treffen wir die ersten Saiblinge an
Es wird also fieberhaft die 7er Fliegenrute zusammengesteckt und schon furcht ein Streamer durch den Kolk. Die Fische sind ins Weißwasser im Einrinn geflüchtet und ein paar halten sich auch noch im Ausrinn auf. Dort wie da sind rasch ein paar Exemplare überlistet, bevor sie endgültig Verdacht geschöpft haben und verweigern.
Die ersten Saiblinge jenseits der Berge sind rasch gefangen

Schöner roter Milchner
Die Temperaturen in den Bergen waren bei meist starkem Wind und ca. 5° unter Tags schon sehr frisch. Nach zehn Tagen draußen hat sich der an die mitteleuropäische Sommerhitze gewöhnte Körper aber offensichtlich perfekt darauf eingestellt. Als an diesem sonnigen Tag endlich wieder wärmeres Wetter einkehrt, hält Jakob die „Mittagshitze“ fast nicht mehr aus und nimmt im eiskalten Bach ein Bad. Er meint es müsse an die 30° haben. Weit gefehlt, denn als ich zur Überprüfung das Thermometer ablese, zeigt es nur 18,5°!

Im Paradies(tal)
Die Freude ist unbeschreiblich, als wir nach sechs Tagen Schufterei im kargen, zerklüfteten Hochland endlich ins liebliche, von Gletschern breit ausgeschürfte Paradiestal absteigen. Bei der Querung eines eisig kalten Wildbachs kurz davor passiert leider noch ein Missgeschick: Ich rutsche aus und stürze mit voller Wucht auf die rechte Kniescheibe, was in weiterer Folge die noch vor uns liegende Wegstrecke zur Quälerei macht und noch einen Monat später Schmerzen verursachen wird. Irgendwie gibt Grönland seine Schönheiten nur zu einem hohen Preis her. Meine eingangs erwähnte Notlage im Jahr 1999 kam dadurch zustande, dass sich einige Flüsse ohne Boot unmöglich durchqueren ließen. Die dadurch nötigen, weiten Umwege und langen Märsche mit schwerer Last musste ich damals mit einer äußerst schmerzhaften Achillessehnenentzündung büßen. 

Endlich im Tal schmeicheln grüne Sumpfwiesen mit massenhaft weißen Wollgrasbüscheln und in großer Zahl darauf grasenden Moschusochsen dem Auge. Ein glasklarer Fluss schlängelt sich durch dieses Tal, das von schroffen Wänden aus hellem Fels mit auffälligen, dunklen Querbändern umschlossen wird. Wir treffen das erste und einzige Mal auf einen anderen Menschen, und zwar einen Naturfilmer, der das einmalige Ambiente dieses Tals festhalten möchte. Ich kenne die Stelle schon von meiner Reise vor 19 Jahren – es handelt sich um den ultimativen Saiblings-Hotspot.

Paradiestal; rechts Moschusochsen
Unser Zeltplatz
Zubringer-Mündung mit Saiblingsschwarm



Die Wandersaiblinge leben über den Frühsommer im Fjord, um sich mit Lodden (Mallotus villotus) den Magen voll zu schlagen, einer massenhaft vorkommenden Kleinfischart aus der Familie der Stinte. Im Juli und August ziehen die Saiblinge den gletschertrüben, riesigen Fluss Sarfartoq hinauf und steigen in den viel kleineren, klaren Fluss ins Paradiestal ein. Hier laichen sie Ende August bis Anfang Oktober ab und überwintern im Süßwasser. Die Nachkommen bleiben nach Nielsen (1961) in Westgrönland 3-5 Jahre im Süßwasser und erreichen erst mit etwa 9 Jahren die Geschlechtsreife. 

Das Gros der Saiblinge, die sowohl im Fluss selbst als auch in der Mündungsstrecke des von uns gefolgten Wildbaches in großen Schwärmen zu sehen sind, misst etwa 60 - 65 cm und wiegt 2 - 3 kg. Dazwischen stehen vereinzelt deutlich schwerere Exemplare. Ähnlich wie im Fjord entwickelt sich auch die Fischerei hier im Fluss zu einem „Luxusproblem“: Wenn die Saiblinge so dicht an dicht stehen, findet sich immer einer, der sich zu einem Biss verleiten lässt, sodass meist schon auf den ersten Wurf ein zermürbend langer Drill folgt. Zum eigentlichen „Fischen“ kommt’s vor lauter „Fangen“ gar nicht. Man sucht also eine Stelle, wo die an sich herrlichen Tiere weniger dicht stehen, um gezielt ein besonders großes Exemplar zu überlisten; oder man wechselt die fängige Fliege, um zu sehen, ob sie auch andere Muster nehmen; für den Fall einer kulinarischen Verwertung sucht man eine Stelle mit besonders kleinen Saiblingen, die eine günstige Portionsgröße aufweisen (bei immer noch 1 - 2 kg für hungrige Mäuler). Kurz, man tut genau das Gegenteil dessen, was üblicherweise auf dem Programm stehen würde.

Ein roter Milchner
Laichhaken
Jakob mit großem Saibling


Herrliche Stelle voller Fisch
Backfisch vom Saibling

Die Moschusochsen zerstören die Weidenvegetation, sodass es mehr als genug trockenes Feuerholz zu finden gibt
Erfolgreich sind hier Reizmuster, ähnlich wie sie zum Fischen auf pazifische Lachsarten eingesetzt werden, in knalligen Farben wie pink oder orange. Als fängigste Fliege entpuppt sich aber ein Muster mit silbrigem Körper, blauem Schwanz und orangem Jig-Kopf. Die Fischerei mit an der Oberfläche furchend gezogenen Fliegen, die als Slider oder Skater bekannt sind, stellt sich als besonders kurzweilig heraus. Interessierte Saiblinge folgen der „heißen Spur“ viele Meter weit, schieben eine Bugwelle vor sich her und reißen schließlich das Maul auf, um sich günstigenfalls über den Störenfried zu stürzen. Man hakt sie nur bei perfekter Beherrschung und genau rechtzeitigem Anschlag – ja nicht zu früh!
Der silber-blaue Jig
Ein pinker Slider
Bulliger 75cm Saibling
Noch ein „Roter“
Das wunderbare Paradiestal


Grönländische Nationalblume (Weidenröschen) im Wind
Einmal von der hohen Bestandsdichte abgesehen weist die Fischerei hier große Ähnlichkeiten mit jener auf Atlantik- Lachse auf. Am besten reagieren die Fische auf ein Muster, wenn es das erste Mal in ihrem Sichtfeld auftaucht und dieses relativ rasch in einem „swing“ passiert. Mit jedem weiteren Versuch sinkt die Chance auf einen Biss rapide. Nach einer längeren Pause oder einem Wechsel zu einem ganz anderen Muster, etwa von einem Oberflächenmuster zu einem Streamer oder zu einer Nymphe, gibt’s häufig wieder action. Manche Saiblinge sind noch silbrig schlicht, andere – wohl Milchner, die sich schon länger im Süßwasser aufhalten – mit knallroten Bäuchen und weißen Flossenrändern prachtvoll gefärbt. Äußerst kampfstark sind sie allesamt. Kein Wunder, die Saiblinge laichen in ihrem Leben viele Male und können ein hohes Alter bis über 20 Jahre erreichen. Ihr Zustand verschlechtert sich mit nahender Laichzeit nicht wie jener der nur einmal laichenden Pazifiklachse, sondern sie stehen jetzt mit großen Fettreserven für die lange Überwinterung „voll im Saft“.
Der größte Saibling (85 cm)
Auf diesem Foto kommt die Länge dieses Ausnahmefischs gut zur Geltung
Nach ein paar Tagen Fischerei und Erholung von den Strapazen der Marschetappe planen wir einen Ausflug zur Mündung „unseres Flusses“ in den Sarfartoq. Wir wollen mit den Packrafts stromab fahren und retour marschieren. Doch leider ist der Gegenwind so stark, dass wir kaum vom Fleck kommen, das Boot nach einigen Kilometern zurücklassen und auch den Weg stromab zu Fuß bewältigen. Auf der Strecke durch das beeindruckende Tal sichten wir zwei Gruppen von Rentieren und unzählige Moschusochsen.
Mit dem Packraft (gegen den Wind) ...
... kann man sich den Moschusochsen sehr gut annähern
Die Moschusochsen (Ovibos moschatus) waren in diesem Teil Grönlands ursprünglich gar nicht heimisch, sondern nur in Nordgrönland. Anfang der 1960er Jahre wurden 27 Tiere dieser nördlichen Population in Westgrönland angesiedelt. Sie fanden in der zuvor nur von Rentieren als einziger großer Landsäugetierart besiedelten Region offensichtlich paradiesische Lebensbedingungen vor und konnten sich exponentiell vermehren. Bis heute ist die Population in dieser Region auf mehrere Zehntausend angewachsen. Die struppigen Tiere stellen mit einer Schulterhöhe bis etwa 1,50 m beeindruckende Gestalten dar. Meist flüchten sie schon bei einer Distanz von etwa 100 m oder stellen sich zu einer „Wagenburg“ zusammen, doch wenn man sie überrascht oder sich gegen den Wind anpirscht, kann man ein anderes Verhalten kennen lernen: Die Tiere schnauben und drohen mit ihren Hörnern und laufen schließlich in vollem Galopp auf einen zu, um (günstigenfalls) nur ganz wenige Meter vor dem Aufprall der mächtigen Hörner und Stirnwülste zu stoppen. Es gilt als ratsam, nicht zu flüchten, sondern seinen Stand zu halten, sodass es bei einem Scheinangriff bleibt. Mit flauem Magen gelingen mir dabei traumhafte Filmaufnahmen.
Moschusochsen bilden „Wagenburg“
Moschusochse kurz vor „Scheinangriff“


Im Unterlauf stößt der klare Fluss schon weit vor der Mündung ...
... sehr nahe an den trüben Sarfartoq (rechts)
An der Mündung des glasklaren „Paradiestalflusses“ in den eiskalten, vom Inlandeis herunter brausenden, tiefgrauen Sarfartoq mischen sich die beiden Wässer in sehenswerten Mustern. Wir haben nur kurz Zeit zum Fischen und fangen rasch ein paar Saiblinge – hier unten handelt es sich um silberblanke Exemplare, die offensichtlich frisch aufgestiegen sind. 
Die Stelle strahlt – wie eigentlich das gesamte Tal – eine erhabene Ruhe und Schönheit aus. Ein Seeadler zieht seine Kreise, sein Horst liegt in der nahen Felswand. Die Stelle ist gut gewählt, denn hier kann er einerseits den Saiblingen auflauern, aber rasch auch den weitere 20 km stromab gelegenen Fjord erreichen. In dieser Gegend wird eine kanadische Firma eine Mine zum Abbau „seltener Erden“ errichten, und ein amerikanischer Konzern plant am Sarfartoq ein großes Wasserkraftwerk und lange Überlandleitungen zur Versorgung einer riesigen Aluminiumschmelze an der Küste. Es ist also zu befürchten, dass dieses Paradies in wenigen Jahren eine Großbaustelle sein wird.
Mündung des klaren Paradiestal-Flusses (links) in den trüben Sarfartoq (rechts) (Panoramabild anklicken zum Vergrößern)
Zurück nach Söndre Strömfjord
Wir verabschieden uns vom Paradiestal und nehmen die letzte Etappe in Angriff, die ca. 80 km lange Strecke zurück bis Kangerlussuaq (auf Dänisch Söndre Strömfjord wie der gleichnamige Meeresarm), wo der internationale Flughafen Grönlands liegt. Wir folgen zu Fuß dem Fluss stromauf und können auch oberhalb zweier meterhoher Wasserfälle, die wir als unpassierbar eingeschätzt hätten, noch kleinere Gruppen von Wandersaiblingen entdecken. Das bestätigt die Beobachtung am Ewigkeitsfjord, dass diese Fische äußerst starke Schwimmer und Springer sind.
Schneehasen-Gruppendynamik
Ein paar Saiblinge passieren auch solche Wasserfälle
In diesem Pool stromauf einiger Wasserfälle stehen auch noch Wandersaiblinge

Fliegenwahl
Kurze Rast, bevor es ins Tal des „Robinson Flusses“ hinunter geht
Der riesige Taserssuaq beeindruckt durch seine leuchtend türkise Farbe

Nach zwei langen Marschtagen durch die hügelige Tundra erreichen wir eine Seenkette und fangen dort ganzjährig im Süßwasser (resident) lebende Saiblinge bis etwa 35 cm Länge. Ihre Mägen sind prall mit roten Daphnien gefüllt, sodass es nicht verwundert, dass auch ihre Filets so intensiv knallrot sind, wie ich das kaum zuvor gesehen habe. Sie schmecken unfassbar gut, noch deutlich besser als die vorwiegend Fisch fressenden Wandersaiblinge!
In diesem Seeeinrinn sind residente Saiblinge zu finden
Im Einrinn eines Sees kommen diese Saiblinge vor
Ihr Filet ist knallrot und schmeckt köstlich
Hier fühlt man sich an Isländische Landschaften erinnert

Wir marschieren hinauf zum obersten See namens Taserssuaq, der etwa so groß ist wie der Atter- und Traunsee zusammen. Die Befahrung des langen Westufers dauert trotz günstiger Winde und Einsatz des Packsails einen ganzen Tag. In der westlichsten Bucht finden wir einen verlassenen Lagerplatz mit Booten, wie sie von Rentierjägern verwendet werden. Hier trennen uns nur mehr 1,5 Stunden Marsch von einer Bucht des Söndre Strömfjord, wo wir schließlich auf ein Lager von Inuit-Familien treffen, die für mehrere Wochen aus Maniitsoq und Kangamiut an der Westküste zur Jagd hierher gekommen sind. Die Frauen schneiden das Fleisch eines frisch erlegten Moschusochsen in dünne Streifen und legen sie zum Trocknen in der Sonne auf Netzrahmen und Steine, Rentierfleisch hängt auf Holzgestellen.
Herrliche Stimmungen am Ende des Taserssuaq Sees

In der Bucht am Söndre Strömfjord treffen wir Inuit Jäger
Moschusochsenfleisch ...
und Rentierripperl beim Trocknen
Wir wollen hier in der Bucht des Söndre Strömfjordes, der 160 km von der Küste weit ins Landesinnere reicht, noch ein paar Stunden fischen. Der Grönländer, der uns mit seinem Boot hinausgebracht hat, belächelt unsere subtilen Methoden und kann – wie unschwer zu erkennen ist – schon nach drei Minuten ohne Fang seine Ungeduld kaum mehr zügeln. Bei Geduld dürfte es sich um eine Tugend handeln, die Grönländer in ihren fischreichen Gewässern nicht zu lernen brauchen. Also legt er ein Kiemennetz aus, in dem zwei Stunden später einige silberblanke Saiblinge mit etwa 3 kg Gewicht zappeln. Beim Filetieren offenbaren sich interessante Details – es handelt sich bei allen sechs Tieren um Rogner mit nur wenig entwickelten Gonaden. Wahrscheinlich laichen die weiblichen Saiblinge nicht jedes Jahr, während sich die Milchner ins Laichgeschäft mischen und zu dieser Jahreszeit gemeinsam mit den reifen Weibchen in die Flüsse aufgestiegen sind. In den Mägen finde ich ausschließlich die bereits erwähnten Lodden, die in den Nordmeeren massenhaft vorkommen und eine ganz wichtige Basis für die Nahrungskette darstellen.

Schließlich klappt auch die Angelfischerei, in den 2-3 Stunden die ich Zeit habe, beißen ein Dorsch und 3 silberblanke Saiblinge mit blaugrünem Rücken. Das sind äußerst kampstarke, wunderschöne Fische. Die Fischerei hier im Fjord erinnert stark ans Meerforellenfischen und sagt mir eigentlich deutlich mehr zu als in den Flüssen, wo einfach zu viel Fisch konzentriert steht.

Herrlicher Strand zum Fischen im Salzwasser
Silberblanker Saibling aus den Fjord
Wenig entwickelter Rogen – also ein Weibchen, das erst im Folgejahr laicht
Mageninhalt: Lodden
Gruppenfoto der Jägerfamilie
Wir sind sehr froh, dass uns der Inuit anschließend mit dem Motorboot über den Fjord bis zum Hafen von Kangerlussuaq bringen kann. So sparen wir die riskante Passage über den hier 5 km breiten Söndre Strömfjord. Schon am Abend sitzen wir in einem Restaurant bei einem „Musk Ox Burger“ und blicken auf eine äußerst abwechslungsreiche Tour zurück, die uns in den vergangenen drei Wochen durch Fjorde, über Gletscher, Seen, Berge und Tundra geführt hat.
***
Quellen:
Bech-Petersen, C. (1998): Im Paradies. Fliegenfischen 1/98: 40-44. 

Cuyler, C., Rosing, M., Mølgaard, H., Heinrich, R., Egede, J. & Mathæussen, L. (2009): Incidental observations of muskox, fox, hare, ptarmigan and eagle during caribou surveys in West Greenland. Greenland Institute of Natural Resources. Technical Report No. 75. 52 S.

Odgaard, U., Grønnow, B. & Pasda, K. (2013): Grönländische Familien auf Karibujagd. Archäologie in Deutschland 3: 34-37. 

Leclercq, P. W., Weidick, A., Paul, F., Bolch, T., Citterio, M. & Oerlemans, J. (2012): Historical glacier length changes in West Greenland. The Cryosphere, 6, 1339-1343. 

Leine, K. (2012): Ewigkeitsfjord (Dänischer Originaltitel des Romans: Profeterne i Evighedsfjorden). Carl Hanser Verlag, 640 S. 

Møller, P. R., Nielsen, J. G., Knudsen, S. W. , Poulsen, J. Y., Sünksen, K. & Jørgensen, O. A. (2010): A checklist of the fish fauna of Greenland waters. Zootaxa 2378: 1-84. 

Nielsen, J. (1961): Constributions fo the biology of the Salmonidae in Greenland I – IV. Meddelelser om Grønland 159 (8): 1-75. 

Olesen, C. R. (1993): Rapid population increase in an introduced muskox population, West Greenland. Rangifer 13 (1): 27-32. 



Hier finden Sie den ersten Teil dieses außergewöhnlichen Reiseabenteuers:



Ein Reisebericht in zwei Teilen von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de - März/April 2018. Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten.
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