Von sibirischen Tigern und Taimen
Teil 2: Am Anyui  |  Ein Reisebericht und Fotos von Clemens Ratschan

Blick über den Urwald am Anyui (Ende Oberlauf).
Nach einigen Tagen organisieren und warten in Chabarowsk – und einer interessanten Fischerei im Amur als Zeitvertreib (siehe Teil 1) – kristallisiert sich für mich eine machbare und finanzierbare Tour in der Umgebung heraus. Der Oberlauf des Flusses Anyui ist auf der Straße von Chabarowsk aus erreichbar. Mein Plan ist, diesen mit einem Schlauchboot bis zur Mündung in den Amur zu befahren, wo eine Brücke über den Fluss führt. Eine gewisse Bekanntheit in Österreich hat dieser Fluss erlangt, weil er Anfang der 1990er Jahre durch eine Studiengruppe von der Universität für Bodenkultur in Wien um Prof. Jungwirth besucht wurde. Die Eindrücke dieser Reise haben in weiterer Folge über die Lehre oder Fotos von Flussstrukturen in Veröffentlichungen eine ganze Generation von mit Fließgewässern Beschäftigten beeinflusst. 
Damals herrschte am Anyui noch absolut unberührte Urnatur, doch in den vergangenen 15 Jahren hat sich vieles verändert. Seit Ende der 1990er Jahre führt eine Strasse an den Oberlauf, die Holzfällern, Jägern und Fischern den Zutritt an den Fluss bzw. in das Zentrum der Sichote-Alin Berge ermöglicht. Die Folge sind Kahlschläge, Waldbrände, Erosionen, Reduktion des Wildbestandes mit entsprechend negative Folgen für den vom Aussterben bedrohten Amur-Tiger (siehe Teil 1), und nicht zuletzt ein schrumpfender Fischbestand, besonders des begehrten und in Bezug auf Überfischung sensiblen Sibirischen Taimen. 
Die neue Lidoga-Vanino Straße führt 30 km entlang des  Anyui-Laufs.
Auf einem Großteil der Strecke herrscht prinzipiell Fischereiverbot, doch wer die Verhältnisse in Russland kennt kann sich ausmalen, wie ernst dies von der Bevölkerung genommen wird. Die Administration hat wenig Interesse, etwas an den Missständen zu ändern - Hauptsache die Menschen sind beschäftigt, können sich irgendwie über Wasser halten und fallen nicht der Allgemeinheit zur Last. Nichts desto trotz ist die Flusslandschaft auf der gesamten Länge von 393 km morphologisch völlig unbeeinträchtigt und damit nach wie vor El Dorado für flussmorphologisch und fischökologisch Interessierte. Auch der weitgehend unberührte, noch nie abgeholzte Laubmischwald entlang des Flusses wäre für sich schon eine Reise wert. 
Der Anyui ist ein rechtsufriger Zubringer des Amur, 793 km stromauf der Mündung des Amur in die Meerenge zwischen dem Japanischen und Ochotskischen Meer. Der mittlere Abfluss von 225 m pro Sekunde wird vor allem durch sommerliche Regenereignisse geprägt. Im Oberlauf beträgt die Flussbreite etwa 60 bis 90 m, das Gefälle liegt bei 2,1 ‰. Die Gewässerstruktur und Talform erinnert mich etwas an die mittlere Mur oder Salzach. Im Mittellauf reduziert sich das Gefälle auf 1,5 ‰, so dass am Ende der von mir befahrenen Strecke der Übergang Äschenregion (Hyporhithral) – Barbenregion (Epipotamal) anzusiedeln wäre. Anhand des Fischbestands bestätigt sich diese Einstufung grob. 
Der Fluss ist aber doch von einer für Oberläufe typischeren Fischartengemeinschaft als vergleichbare heimische Gewässer besiedelt, obwohl er auf 49° nördlicher Breite liegt (entspricht etwa Bayern) und sich vom Mittellauf bis zur Mündung über eine Seehöhe von nur etwa 200 m bis 23 m erstreckt: Salmoniden dominieren noch den gesamten Mittellauf mit Ausnahme von Elritzen, Schmerlen und Koppen. Wohl sind das gebirgige Einzugsgebiet und das kontinentalere Klima mit langen, kalten Wintern dafür verantwortlich. In Bezug auf die Gewässerstruktur lässt der Mittellauf jedenfalls recht gut erahnen, wie die verzweigten Abschnitte (Furkationsstrecken) der mittelgroßen Flüsse in Mitteleuropa vor menschlicher Einflussnahme ausgesehen haben.

<= mit dem Taxi auf der Hauptstraße am Amur

unter der Brücke über den Gobilli belade ich mein Boot  und beginne den Float
Mündung des Gobilli (li) in den Anyui (re) Insel u.Furt am Anyui, im Hintergrund abgebrannter Hügel
Nach ca. 5 Stunden Taxifahrt erreiche ich den Zubringer Gobilli, der einige Kilometer stromab in den Anyui fließt. Hier blase ich das Boot auf, belade es und verabschiede mich vom Fahrer. Es stellt sich schlagartig jene seltsame Mischung aus Euphorie und Respekt vor dem Kommenden ein, die man als alleine Reisender besonders intensiv genießen kann. Mit guter Geschwindigkeit geht’s rasch die paar Kilometer bis zum Anyui hinunter. Herrlich, wie sich im Oberlauf meine Trockenfliege während des Driftens schräg vor dem Schlauchboot hertreiben lässt. Überaus praktisch in einem umbekannten Fluss, um die Standplätze der Fische auszukundschaften. Einige hundert Meter lange “dead drifts” sind möglich, ohne dass die Fliege furcht, weil sich der breite Lauf des Flusses nur leicht pendelnd durch die dicht bewaldeten Hügel schlängelt. Am Ende des Vorfachs hängt eine Lenkovka-Variante, Hakengröße 4. Ein russisches Fliegenmuster, das gerade schwärmende riesige Köcherfliegen und Steinfliegen imitiert. 
Vorbild (riesige Steinfliege, wahrscheinlich Gattung Ptero
narcys) u. Nachahmung – verschiedene gute Lenok-Köder
Nach einigen mühelos befischten Kilometern strafft sich die Leine, ein starker Zug krümmt die Rute und dreht mein Boot stromauf. Hat sich ein sibirischer Taimen an die Trockenfliege verirrt? Meine Körperkoordination wird auf eine harte Probe gestellt: Die Rute zwischen die Zähne gepresst, versuche ich einerseits, die Leine gestrafft zu halten, und andererseits mit beiden Händen rudernd das Ufer zu erreichen, um den großen Unbekannten in Ermangelung eines Keschers zu stranden. Das Kunststück gelingt und bald halte ich das Prachtstück in Händen, es handelt sich um einen 3 kg schweren “Stumpfnasen-” Lenok mit bulligen Proportionen und riesigen schwarzen Punkten. 
64 cm langer „Stumpfnasen-“ Lenok – gesamt und im 
Detail
Hier im Amurgebiet (aber u. a. auch im Einzugsgebiet der Lena) kommen nämlich zwei Arten von Lenoks vor, dieser ursprünglichen Salmonidenform, die zu den Huchen und Saiblingen näher verwandt sind als zu den Forellen. Der „Spitznasen-“ Lenok (Sharp-nosed Lenok, Brachymystax lenok) mit unterständigem Maul und der „Stumpfnasen-“ Lenok (Blunt-nosed Lenok, Brachymystax savinovi) mit einem forellenähnlichen, endständigen Maul (Anm.: In der Literatur werden anstatt der lateinischen meist die englischen Begriffe verwendet, weil die Lenok-Taxonomie noch umstritten ist). Bis vor wenigen Jahren war in Diskussion, ob es sich bei beiden Formen um so genannte Ökotypen, Unterarten oder Arten handelt – schließlich können fruchtbare Hybride zwischen beiden Formen hergestellt werden. Neueste wissenschaftliche Arbeiten unterstützen aber die Meinung, dass sie als getrennte Arten zu führen sind. Hinsichtlich Habitatwahl und Ernährungsgewohnheiten bestehen zwischen den beiden Lenoks kaum Unterschiede, lediglich in Bezug auf das Wanderverhalten und die Verbreitungsgrenzen innerhalb von Flusssystemen wird mancherorts eine geringe Differenzierung angenommen. Dass diese zwei Salmonidenarten mit überaus ähnlichen ökologischen Ansprüchen natürlicherweise gemeinsam in einem Gewässersystem auftreten, ist eine ökologische Besonderheit. Dass sie sich nicht entsprechend des Konkurrenz-Ausschlussprinzips verdrängt oder weiter auseinander entwickelt haben zeigt, dass die Evolution beim Lenok noch voll im Gang ist. 
Vergleich „Spitznasen-” (links bzw. unten) und 
„Stumpfnasen-” Lenok (rechts bzw. oben)
Verbreitung der verschiedenen Lenok-Formen und der Bachforelle in Eurasien
schöne Lenok-Angelstelle... etwas unordentliches „Cockpit“ mit Zweihandrute zum Taimen- und 6er Rute zum Lenok-Fischen...
In den nächsten Tagen fische ich vor allem driftend, bleibe aber an schönen Stellen immer wieder stehen und fische mit verschiedenen Methoden und Ködern auf Lenok, Äsche und Taimen. Vor strukturreichen Ufer, hinter Steinen und in tiefen Zügen fange ich mit regelmäßig beide Lenokarten in Längen von meist zwischen 40 bis 60 cm, die wunderbar auf große Trockenfliegen steigen.
Besonders auf rasch überströmten Schotterbänken tummeln sich hingegen unzählige Äschen. Es handelt sich dabei um die kleinwüchsige „Lower Amur“ - Äsche (Thymallus tugarinae), die kaum 35 cm erreicht. Sie wurde früher nicht von der „Amur-Äsche“ (T. grubii) unterschieden und erst 2005 vom russischen Äschenforscher Igor Knizhin und Mitarbeitern definitiv als eigene Art beschrieben. Typische Merkmale dieser Äsche ist neben dem end- bzw. sogar ganz leicht oberständigen, etwas bezahnten Maul die prächtige Färbung. Die Rückenflosse ist rot gerandet, und auch zwischen den Schuppen entlang der Flanken ziehen sich rote Pigmentreihen. Schwarze Punkte sind im Unterschied zur „Upper Amur-Äsche (T. grubii) nur einzeln hinter dem Kopf zu finden.
„Lower-Amur Äsche“ (Thymallus tugarinae) Größenaufbau von Anyui-Äschen (Angelfänge)
Im Oberlauf des Anyui wurde von Alexander Antonov erst im Jahr 1996 eine zweite Äschenart beschrieben, die damals „Upper Anyui“ Äsche getauft wurde (jetzt: „Yellow-spotted grayling“, Thymallus grubii flavomaculatus). Wie man jetzt weiß, kommt sie neben dem Oberen Anyui und Gobilli auch in einigen anderen Oberläufen von Zubringern der Tartaren-Straße vor. Diese wunderschöne Äsche ist großwüchsiger, zeigt eine stärker gelb-orange Färbung und vor allem einen gelben Fleck am Ende der Rückenflosse. Leider kommt die Form jetzt im Sommer im Mittel- und Unterlauf nicht vor, sodass ich sie selbst nicht zu Gesicht bekomme.
Yellow-spotted grayling (Thymallus grubii flavomaculatus) aus dem Anyui. Foto: A. Antonov
Heutzutage ist der Anyui der stromauf letzte Amur-Zubringer mit natürlichen Buckellachs- und Sommer-Hundslachs Populationen. Die Aufstiege weiter stromauf liegender Flüsse sind durch Überfischung und Habitatdegradation weitgehend zum Erliegen gekommen. Der spätere Aufstieg von Herbst-Hundslachsen (Keta) ist im Anyui hingegen in manchen Jahren noch sehr stark und führt zu einer Anreicherungen des Gewässers und des Umlands mit marinen Nährstoffen der nach dem Laichgeschäft verendenden Lachse und deren Geschlechtsprodukten. Auch im Vorjahr fand ein guter Keta-Aufstieg statt – dies erklärt die unzähligen Hundslachs-Brütlinge, die besonders in kleinen Nebenarmen und strukturreiche Uferzonen massenhaft in Erscheinung treten. 
Schlauchbootfahrt im Mittellauf
Neben den beiden Lenoks, den zwei Äschenarten sowie Hunds- und Buckellachs kommt im Anyui der Taimen oder Sibirische Huchen als siebte Salmonidenart vor. Taimen sind zum heimischen Huchen so nahe verwandt, dass manche Wissenschafter sie als Unterarten einer einzigen Art bezeichnen (Donaulachs: Hucho hucho hucho; Sibirischer Taimen: Hucho hucho taimen). Äußerlich unterscheiden sich Taimen im Wesentlichen nur durch eine stärkere Rotfärbung der After- und Schwanzflosse (siehe Foto unten). Wie auch lokale Kenner berichten, dürfte sich der Bestand im Anyui in den letzten Jahren massiv verschlechtert haben, was vor allem durch die leichte Erreichbarkeit über die neu errichtete Straße zu erklären ist. Während gegen Ende der 80er Jahre noch Fänge von Exemplaren über 40 kg möglich waren, kann ich trotz ausgiebiger Fischerei nur 4 kleine Taimen überlisten (46 - 67 cm; siehe Diagramm im Teil 3). Drei davon beißen nicht beim Taimenfischen mit großen Streamern und Rehhaarmäusen, sondern direkt auf den Schotterbänken als Beifang beim Fischen auf Lenok. Ursprünglich lag im Mittellauf des Anyui der im Sommer am dichtesten von Taimen besiedelte Flussabschnitt. Taimen fehlen in der warmen Jahreszeit nur auf den letzten etwa 20 km bis zur Mündung in den Amur, während sie zum Überwintern teils bis in den Amur stromab ziehen. 
Fangplatz des ersten Taimen  mein erster Anyui-Taimen – ein 49 cm „Salzstangerl“
weitere zwei kleine Taimen - mit prächtig rot gefärbter 
After- und Schwanzflosse
Trotz des mäßigen Bestands gelingt ein schönes Taimen-Fangerlebnis - von meinem Zeltplatz auf einer Schotterinsel. Am Abend kann ich hier auf kleine Trockenfliegen zahlreiche Äschen und Lenoks fangen. In der Dämmerung montiere ich dann eine Rehhaarmaus und lasse sie über den anschließenden Kolk furchen. Viele Würfe lang passiert nichts, doch als ich erfolglos zum Zelt zurück marschierend den Schusskopf samt Maus hinten nachhängen lasse, höre ich ein Platschen und kurz darauf reißt es an der Rute. Der freche Taimen ist bei 62 cm zwar noch immer ein Winzling, er hat sich aber durch die die arttypische Raublust erst von der derart schnell furchenden Maus zum Biß verleiten lassen. 
„Spitznasen-“ Lenok Lower-Amur Äsche
Lagerplatz – eingeparkt auf einer Schotterbank Nächtlicher Taimenfang auf Rehhaarmaus
Daurische Lilie ... ... und wilde Rose am Ufer des Anyui
Nachdem ich mit dem Boot etwa 50 km gefahren bin, die noch dem Oberlauf zuzurechnen sind, verändert sich der Charakter des Flusses. Die Berge weichen zurück und erlauben dem Fluss eine ausgeprägte Laufentwicklung. Der Anyui beginnt sich zu verzweigen und vermittelt mir den subjektiven Eindruck, mich auf einem viel kleineren Fluss zu bewegen: Der Abfluss teilt sich fast immer auf ein oder zwei Hauptarme und eine Reihe von kleinen Nebenarmen auf. Wie sich an der bis wenig über den Niederwasserstand herunter wachsenden Vegetation und den extrem geringen Flurabständen zur Au zeigt, dürften die Wasserspiegelschwankungen recht gering sein – Hochwässer können sich hier auf ein kilometerbreites Augebiet verteilen. 
Die enorme Vielfalt und Dynamik der Flusslandschaft äußert sich auf unterschiedlichsten Niveaus, von der auffälligen Substratherogenität (feiner Kies oder Sand war im Oberlauf noch fast nirgends zu finden) bis hin zur Vegetation. Während sich auf den jungen Flächen Schlammfluren und Weidenanflug ansiedeln, sind höhere Flächen durch größere Weiden, später zusätzlich Pappeln und Eschen besiedelt. In den Außenbögen großer Schlingen graben Prallhänge in hoch liegendes Gelände, sodass sich sehr aufschlussreiche „Seitenblicke“ ins Umland ergeben. Der Primärwald zeichnet sich hier durch eine enorme Artenvielfalt aus; es treten auch Eichen, Fichten und Kiefern auf, neben einer Vielzahl mir unbekannter Gehölze (im Gebiet kommen erstaunliche 150 Baumarten vor).
flache Schotterbank und unterschiedliche Auwald-Sukkzessionsstadien Wer war zuerst da, die Insel oder der Baum?
Kaum glauben kann ich, als eine Motorzille um die Flusskurve kommt und sich die drei Insassen als „Ribinspektor“ (Fischereikontrolle) zu erkennen geben. Glücklicherweise kann ich die gewünschten Papiere vorweisen, und die drei Herren sind genauso verblüfft über einen Österreicher wie ich über die Kontrolle hier mitten in der Wildnis. Tatsächlich dürften die Beamten selbst die ärgsten „Fischwilderer“ sein, in ihrem Boot liegen neben 3 Spinnruten eine Handvoll Lenok. Für ein zünftiges Foto drückt mir der „kapitalste“ Fischinspektor ganz ungeniert einen Lenok in die Hand. 
Fischereikontrolle...
Selbstauslösterfoto am Lagerfeuer am feuchten Sand saugende Baumweißlinge
"Stumpfnasen-“ Lenok „Spitznasen-“ Lenok
Bei Hochwasser werden große Bäume ausgeschwemmt...  und bilden im Fluss tolle Einstände.
Durch Seitenerosion werden bei Hochwasser gigantische Mengen an Totholz mobilisiert, das auf Inselköpfen zusammen geschoben wird. Sehr bequem als Lagerplatz für Bootfahrer wie mich: Einfach auf den Inselspitz zutreiben lassen, für einen flachen Zeltplatz und das Feuerholz hat bereits der Fluss gesorgt. Bleiben Bäume auf Schotterbänken liegen, so werden diese um die entstandenen Zwangspunkte zerfurcht. Der Schotter ist teils so gut sortiert bzw. lückig, dass man in den entstandenen, isolierten Tümpeln eine ausgeprägte Durchströmung des Schotterkörpers erkennen kann. 
In derartigen Kleingewässern, aber auch in den Buchten der Schotterbänke tummeln sich drei Arten von Elritzen (siehe Artenliste im dritten Teil). In den zahlreichen, mit Ausnahme von Hochwässern nur unterstromig angebundenen Altarmen schwimmen ebenfalls Elritzen sowie „Spitznasen-“ Lenoks und vereinzelt bereits Amur-Nerflinge (Leuciscus waleckii). Leider kann ich keinen Amur-Hecht fangen (Esox reichertii; siehe Teil 1), der hier wohl an seine obere Verbreitungsgrenze im Flusssystem stößt.
Wo Totholz die Schotterbank zerfurcht, leben massenhaft  Elritzen.
unterstromig angebundener Altarm  durch Totkolz verklauste Abzweigung eines durchströmten Nebenarms
Die erodierten Bäume können sich aber auch zu logjams (engl. log = Stamm, jam = Stau) verklausen und Flussarme, ja sogar den gesamten Fluss versperren. Für das an holzleere mitteleuropäische Flüsse gewohnte Auge wirken diese Strukturen sonderbar, doch die ökologische Bedeutung von Totholz kann fast nicht überschätzt werden. Logjams können über Generationen bestehen bleiben und uralt werden. Sie rauben dem Fluss seine gestalterische Kraft und werden nur extrem selten wieder erodiert, am ehesten wohl seitlich durch Verlagerung von Nebenarmen. Bei Hochwasser wirken sie wie ein Filter und wachsen stromauf, werden riesig. Für mich als flussmorphologisch Interessierten sind logjams spektakuläre Fotomotive, als Bootfahrer bedeuten sie aber primär zweierlei: Gefahr und Mühsal. Gefahr, wenn sie stark unterströmt werden, sodass der unachtsame Fahrer mitsamt zerfetztem Schlauchboot darunter gezogen und im Holz hängend ertrinken kann. Mühsal, wenn sie den gesamten Fluss überspannen und umtragen (portagiert) werden müssen.
unterströmter Logjam im Mittellauf des Anyui
über das Totholz ... ... freuen sich Lenok ...
... und Mink ... ... und über die großen Schotterflächen ...
... saugende Schmetterlinge ... ... und Amur-Äschen
Tatsächlich, etwa 50 km oder 2 Tagesetappen vom Amur entfernt treffe ich auf einen riesigen, etwa 2 km langen Logjam. Trotz stundenlangen Suchens finde ich keinen umgehenden Nebenarm, der nicht massiv verklaust wäre. Also heißt es portagieren, Boot und Gepäck auf dem Land-„weg“ bis unterhalb tragen. Leider erweist sich der umgebende Auwald als derartig undurchdringlich, dass ich dazu gezwungen bin, meine Habseligkeiten auf den schwankenden Stämmen kletternd zu transportieren. Nach 4 schweißtreibenden Stunden ist das Gröbste geschafft, ich habe die Packsäcke in 2 Gängen nach unten getragen. Als ich keuchend wieder retour komme, um noch das Boot als letzte Last zu holen, gibt’s eine böse Überraschung. Das Boot ist verschwunden, nirgends zu finden, gestohlen. Mutterseelenallein stehe da und frage mich: Wie komme ich aus der Wildnis zurück ohne Boot, mitten in diesem undurchdringlichen Urwald? Ich schlucke, versuche die aufkommende Panik zu unterdrücken, überlege.
der riesige Logjam bei Arsenjevo
Die Preisfrage lautet: Sind die Diebe ebenfalls per Boot gekommen oder aus dem Wald, sodass in der Nähe menschliche Ansiedelungen und wohl auch eine Straße liegen müssen? Frustriert trotte ich erneut runter zu den Packsäcken und konsultiere Karte und GPS. Tatsächlich - ich habe Glück im Unglück. Das einzige Dorf im gesamten Flussverlauf – Arsenjevo – liegt nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt. Ein Paar Augen dürfte mich aus dem Wald beobachtet und zu der Erkenntnis gekommen sein, dass so ein Schlauchboot eine feine Sache ist …

Am nächsten Morgen ist Spurensuche angesagt. Wirre Wildwechsel durchkreuzen das ansonsten undurchdringliche Dickicht, manche auch mit verheißungsvollen, mehr oder weniger frischen menschlichen Trittsiegeln. Nach einigen Stunden des Herumirrens bin ich bereits verzweifelt: Keine der Spuren mündet in einen erkennbaren Weg in die vermutete Richtung zum Dorf, die meisten lösen sich wieder auf oder enden an nicht durchwatbaren Nebenarmen. Schließlich treffe ich zum Glück auf einen fischenden alten Mann, der mir voraus schreitend den Weg weist. Und tatsächlich, nach längerem Marsch lichtet sich der Wald und es tauchen die typisch russischen Kartoffeläcker und ein verschlafenes Dorf aus Holzhäusern auf. Ich steuere das „Gemeindeamt“ an, wo mir die freundliche Bürgermeisterin einen Tee anbietet und zwei Gehilfen, die mit mir die Packsäcke aus dem Wald tragen. Ausländer dürften sich hierher wohl nur extrem selten verirren. Mit einem per Telefon bestellten Taxi geht’s von diesem Vorposten der Zivilisation durch endlose Schotterpisten wieder zurück nach Chabarowsk.

Bürgermeisterin vor dem Gemeindeamt Gemeindebedienstete schleppen mein Zeug aus dem Wald
Schade nur, den Unterlauf nicht kennen gelernt zu haben, der in Bezug auf die Gewässerstruktur zwar dem Mittellauf ähnelt, sich aber nicht zuletzt wegen des erwärmten Wassers durch eine eigene Fischregion auszeichnet. Salmoniden fehlen dort im Sommer, die Hauptfischarten sind der „Flathead Asp“ (Pseudaspius leptocephalus), den ich im dritten Teil vorstellen werde, und im Herbst aufsteigende Hundslachse. Erst auf den letzten Kilometern soll der Fluss den Großteil der enorm artenreiche Amurfauna beherbergen.

In Bezug auf die Taimen-Fischerei hat der Anyui leider enttäuscht, aber das werde ich auf der anschließenden Tour gründlich nachholen können … 

Clemens Ratschan

Teil 3 erscheint hier im April 2009.


Ein Bericht von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de. Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten.

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