Von sibirischen Tigern und Taimen
Teil 1: Am Amur  |  Ein Reisebericht und Fotos von Clemens Ratschan

Blick über den mittleren Amur
Vorweg
Gerne schreibe ich für das Fliegenfischer-Forum einen Bericht über meine vierwöchige Reise in den Fernen Osten Russlands im Juni/Juli 2008. Der Report ist als Dreiteiler angelegt und beginnt mit der Fischerei im Amur, die ich eigentlich zur Zeitüberbrückung kennen gelernt habe, die sich aber als enorm interessant erwiesen hat.

Eigentlich steckt bereits im Titel meines Reiseberichts ein Fehler. Sibirien endet streng genommen etwas östlich vom Baikalsee. Und dort gibt’s zwar Taimen (Sibirische Huchen), aber keine Tiger. Die leben nämlich im Fernen Osten Russlands. Speziell das Amur-Gebiet an der Grenze zu China stellt ein enorm attraktives Ziel für mich dar. Besonders vor dem Hintergrund, dass es auf einer ähnlichen geografischen Breite liegt wie Mitteleuropa, jedoch noch großflächig Urwälder und natürliche Flüsse erhalten sind. Weltweit kann man sich am besten einen guten Eindruck holen, wie Flusslandschaften zuhause ausgesehen haben, bevor der Mensch den Wald zu roden und die Flüsse zu regulieren begann.

Karte des Amur-Einzugsgebiets (hellgelb) mit den danach besuchten Zubringern Anyui (siehe Teil 2) und Bichi / Udil See (siehe Teil 3)
 

Amur-Tiger und nicht Sibirischer Tiger, so müsste also die korrekte Bezeichnung von Panthera tigris altaica heißen, der letzten überlebenden Tiger-Unterart in Ostasien. Die aktuellen Vorkommen dieser größten Raubkatze der Erde werden auf etwa 500 Tiere geschätzt und beschränken sich auf die Mischwälder in den Regionen Chabarowsk und Primorye (bekannt ist deren Hauptstadt Vladivostok) im Fernen Osten Russlands. Ehemals auch in China und Korea weit verbreitet, sind diese Lebensräume im Süden heute verloren gegangen, sodass die Anzahl der außerhalb Russlands lebenden Amur-Tiger auf nur mehr etwa 20 bis 30 Individuen geschätzt wird.

Nördlich des Amur werden vereinzelt ausstreunende Jungtiere gesichtet, der hier beginnende Nadelwald – die schier unendliche russische Taiga – ist aber nicht nachhaltig als Tiger-Lebensraum geeignet: Zu gering dessen Produktivität und Bestand an Beutetieren, vor allem Wildschweinen, Hirschen und Rehen. Der Restbestand in Russland hat sich nach Angaben des WWF zwar stabilisiert, durch den fortschreitenden Verlust seines Lebensraums blickt der Amur-Tiger aber keiner rosigen Zukunft entgegen.
 

Amur-Tiger aus dem Regionalmuseum in Chabarowsk

Meine Anreise entpuppt sich als Martyrium: Trotz mehrmaligen Nachfragens besteht die Dame am Schalter am Flughafen München darauf, dass das Durchchecken des Gepäcks bis zum Zielflughafen Chabarowsk möglich sei. Mit dem Effekt, dass ich im Fernen Osten stehe, das Gepäck aber in Moskau liegt. Die Auskunft lautet, ich müsse um die halbe Nordhalbkugel wieder retour nach Moskau fliegen, um die Ausrüstung durch den Zoll zu bringen. Auch mein Kontaktmann wartet nicht wie vereinbart am Flughafen und seine Telefonnummer scheint nicht zu funktionieren. Also stehe ich unbeholfen hier und versuche, das Flughafenpersonal mit meinen wirklich sehr rudimentären Russischkenntnissen zu motivieren, immer wieder in Moskau anzurufen, um eine Alternative zu finden. Bei 7 Stunden Zeitverschiebung erweist sich als kleines Kunststück, den Verantwortlichen dort zu erreichen.
Blick über den riesigen Amur (Breite hier ca. 4 km)
Die Zwischenzeit verbringe ich in einem sauteuren Hotel in Sowjet-Stil. Im Ungewissen muss ich hier in inzwischen leicht verschwitzter Kleidung darauf warten, dass sich das Blatt zum Guten wendet. Alles löst sich in Wohlgefallen auf, als nach 2 Tagen das Gepäck tatsächlich nachkommt und auch mein Kontaktmann Arthur auftaucht. Mit dabei ist Mikhail Skopets, der aufgrund von Hochwasser seinen Angeltrip verfrüht abgebrochen hat und nach Chabarowsk zurückgekehrt ist. Mikhail ist russischer Fliegenfischer-Pionier der ersten Stunde, war viele Jahre als Fischökologe in Magadan tätig, und lebt jetzt in Chabarowsk. In Russland kennt ihn fast jeder in der Fischer-Szene. Nicht nur durch seinen beruflichen Hintergrund, sondern auch durch Auftritte in Fliegenfischer-Sendungen und nicht zuletzt durch sein neues Buch „Fliegenfischen im Fernen Osten“. Mikhail quartiert mich mit einer herzlichen Selbstverständlichkeit in seiner Wohnung ein, obwohl wir uns abgesehen von ein paar emails gerade erst kennen gelernt haben - ein Paradebeispiel für die bemerkenswerte russische Gastfreundschaft.

Möglicherweise könnte ich einen Helikopterflug an einen guten Taimenfluss mit einer russischen Gruppe teilen, so heißt es. Die kommt nach ein paar weiteren Tagen an, aber Fehlanzeige. Die Fischer wollen unter sich bleiben. Also kein Helikopter, was in Russland nichts Gutes bedeutet – von der Straße erreichbare Gewässer sind meist sehr stark befischt und bieten zumindest in Bezug auf die Fischerei auf Sibirische Taimen nur wenig. 

Am Zusammenfluss von Amur (li. oben) und Ussuri (re. unten) liegt Chabarowsk (re. oben)
Die Wartezeit überbrücke ich mit Fischen im Amur. Darum ein paar Worte zu diesem Grenzfluss zu China und zu seiner Fischfauna. Unzweifelhaft ist er zu den 10 größten Flüssen der Erde zu zählen, ganz gleich, ob man den mittleren Abfluss (ca. 11.400 m3 pro Sekunde), die Länge (je nach Quellfluss zwischen 4.400 und 5.050 km) oder das Einzugsgebiet (max. 2,4 Mio. km2) heranzieht. Den Vergleich mit den großen sibirischen Flüssen Jenissej, Ob und Lena braucht er nicht zu scheuen, eindeutig an Größe übertrifft ihn von diesen nur der Jenissej. 

Rekordverdächtig für einen Fluss gemäßigter Breite ist aber vor allem seine Fischartenzahl. Berücksichtigt man eingeschleppte und anadrome Fische, so sind aus dem Amur derzeit ca. 139 Fischarten bekannt. Darunter etwa 100 heimische Arten, die permanent im Amur leben Verglichen mit den sibirischen Flüssen Jenissej (excl. Baikalsee) und Lena, die bei knapp 40 heimischen Arten liegen, oder auch der sehr fischartenreichen Donau (ca. 100 Arten) - eine enorme Vielfalt! Die Gründe dafür sind vielschichtig: Der Amur verbindet mit seiner West-Ost Achse den kontinentalen sibirischen mit dem maritimen pazifischen Raum. In Nord-Süd-Richtung trennt er die Taiga im Norden von den artenreichen warmgemäßigten Gebieten im Süden. Zahlreiche Warmwasserarten erreichen am Amur ihre nördlichste Verbreitungsgrenze, etwa der Graskarpfen (Ctenopharyngodon idella), der bei uns auch als Amurkarpfen bekannt geworden ist. Im Amur kommen auch eine Reihe von endemischen Arten vor (die nur hier vorkommen), am bekanntesten davon der Amur-Hausen (Kaluga, Huso dauricus) und der Amur-Hecht (Esox reichertii). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch ein ungewöhnlicher Wechsel im Längsverlauf: Im Mittellauf schwenkt der Amur nach Süd, erwärmt sich bis auf etwa 26°C und entwickelt eine artenreiche Cyprinidenfauna. Der Unterlauf führt zurück in nördliche Richtung und kühlt durch den Einfluss des eisigen Ochotskischen Meeres wieder deutlich ab. 

Amur-Hecht (Esox reichertii). Foto aus dem empfehlenswerten TINRO-Aquarium in Chabarowsk
Daher kommt es, dass im Amur nicht nur beachtliche 60 Cypriniden und Vertreter vieler weiterer Familien leben, sondern auch 10 Arten von Salmoniden, darunter viele auf den Unterlauf beschränkte, anadrome Arten. Einst war der gewaltige Strom einer der produktivsten Lachsflüsse der Erde, mit Ausfängen über 100.000 Tonnen im Jahr 1910 und Fängen an Stören (v. a. Acipenser schrenckii und Kaluga) von 1200 Tonnen. Doch von diesem ehemaligen Fischreichtum ist nur mehr ein müder Abklatsch erhalten, die Fangzahlen liegen heute bei weniger als einem Zehntel. Die Gründe dafür liegen in Überfischung, Verschmutzung, Habitatdegradation und Wasserkraftwerken in Zubringern. Vor allem die rechtsufrigen Zuflüsse des Oberlaufs, wie der aus der dicht bevölkerten chinesischen Mandschurei kommende Sungari, verschmutzen den Fluss derart, dass der Genuss von Amurfischen gesundheitlich bedenklich geworden ist. In diesen chinesischen Gewässern sind sowohl der Hausen-, als auch der Lachsaufstieg sowie die Taimenbestände de facto erloschen.
Im Amur erhalten geblieben ist allerdings die enorme Vielfalt an Fischarten. Charakteristisch für viele davon sind pelagische Eier und Larven, die weit stromab verdriften. Die Jungfische führen stromauf gerichtete Massenmigrationen durch, um diese Abdrift zu kompensieren. Und auf Basis dieser Nahrung haben sich ungewöhnlich viele Prädatoren entwickelt: Bei etwa einem Drittel der gesamten Amurfischfauna handelt es sich um räuberische Arten! Das kann man sich als Angler zunutze machen, denn unterhalb von Hindernissen und turbulenten Stellen sammeln sich diese Raubfische, um den aufwärts wandernden Fischen aufzulauern. 

Blocksteinrampe...

Das weiß natürlich Mikhail und steuert eine besonders verheißungsvolle Angelstelle an: Um ausreichende Fahrwassertiefe eines rechts an die Stadt Chabarowsk reichenden Amurarms zu gewährleisten, wurde kurzerhand ein linker Arm durch eine riesige Blocksteinrampe aufgestaut. Dass die Passierbarkeit dieser Rampe für Fische eher sehr eingeschränkt einzuschätzen ist, zeigt die Konzentration an Fischen im Unterwasser. Ganze Schwaden kleiner Cypriniden versuchen die Barriere in den Zwischenräumen der Steine zu überwinden, und Möwen stürzen sich laufend ins Wasser, um sie zu erbeuten.

...und Mikhail beim Zweihandfischen im Unterwasser

Auch eine ganze Schar von Spinn- und Grundanglern hat sich bereits frühmorgens hier angesammelt. Wir bauen unsere Zweihandruten zusammen und positionieren uns zwischen den verdutzten Kollegen. Trotz des Trubels können wir mit Streamern schon nach einigen Würfen typische Amur-Arten fangen, die ausschauen wie räuberische Varianten unseres heimischen Sichlings; es handelt sich um die an der Oberfläche raubenden Arten „Lookup“ (Culter alburnus) und den bis 1 m groß werdenden „Skygazer“ (Chanodichthys erythropterus; Anm.: Im Weiteren werde ich die recht passenden und bereits etablierten englischen Fischnamen verwenden, um schwerfällige Eindeutschungen zu vermeiden).
Skygazer (Chanodichthys erythropterus), ein 
Oberflächenräuber der bis etwa 1 m groß wird
Mikhail imitiert die Fischbrut mit einem weißen Twister 
und fängt einen Lookup (Culter alburnus)
Auf Dauer nervt das dichte Treiben auf diesem Ufer und laufende Schnurkontakte mit durch Luft und Wasser schwirrende Spinnköder. Daher blasen wir Luft in ein winziges Ruderboot und rudern damit zu dritt (!!) über den 400 m breiten Nebenarm, um am schwer erreichbaren rechten Ufer zu fischen. 
Andrej – versierter Fliegenbinder, Misha und ich rudern 
über den Amur-Arm
Wir bieten wohl einen ungewöhnlicher Anblick: Zwei Zweihandrutenfischer klettern auf einer Blocksteinrampe über den Amur und präsentieren ihre Fliegen im tosenden Unterwasser. Doch unsere Methode erweist sich als effizient: Wir können hier eine ganze Reihe von „Chinese Bass“ fangen (Mandarinfisch, Siniperca chuatsi). Diese stacheligen Fische sind wunderschön gefärbt und erinnern eher an tropische Meeresfische; sie gehören zur Familie Percichthyidae (Dorschbarsche), die nahe zu den marinen Serranidae verwandt sind, deren bekanntester Vertreter der Zackenbarsch ist. Der auf über 8 kg abwachsende „Chinese Bass“ steht auf der russischen Roten Liste, trotzdem ist er die begehrteste Beute der zahlreichen Angelfischer am anderen Ufer. Die können sich nicht leisten, auf gefährdete und vor allem stark belastete Amurfische als Nahrungsmittel zu verzichten. Angesichts des etwas stinkenden, trüben Wassers fällt und das Releasen weniger schwer. 
Wir konzentrieren uns auf die Fischerei, die etwas an das heimische Zanderfischen erinnert: Die Chinesenbarsche stehen tief am Grund zwischen den Steinen und sind am besten mit ganz tief geführten, dunklen Streamern zu überlisten. Doch auch direkt am Ufer spritzen immer wieder Jungfische auf, wer ist wohl hinter ihnen her? Ein heller Streamer löst das Rätsel, es handelt sich um einen Schwarm „Mongolian Redfin“ (Culter mongolicus), dem Schied ähnliche Cypriniden mit wunderschönen roten Flossen.
 

Beim Fliegenfischen mit der Zweihandrute im Amur...

Wunderschön gezeichnete Barsche...
Andrej mit schönem „Chinese Bass“ von 3 kg
Andrej mit „Mongolian Redfin“
Mit Arthur (li) und Andrej (re) auf dem Amur
„Mongolian Redfin” (Culter mongolicus)  (oben und unten rechts)
Nach meiner Rückkehr von der zweiten Tour (siehe Teil 3) geht’s einen Tag an ein 40 km stromab gelegenes Dorf, Sikachi-Alyan. Hier liegen am Ufer riesige Basaltblöcke verstreut, auf denen Gravuren (Lithoglyphen) aus dem 11. Jahrhundert vor Christus zu bewundern sind. Die Strömung prallt hier ans Ufer, sodass hinter den Steinen eine interessante Fischerei möglich ist. 
 

Unten: Viel versprechende Angelstelle mit Felsen am Ufer. Darauf finden sich 11.000 Jahre alte Lithoglyphen, wie diese Darstellung eines Fisches.

Auch hier sind Chinese Bass zu fangen, die von unten an die Oberfläche rauben und sich so verraten. Auch sehr ungewöhnlich aussehende Fische gehen an den Haken. Etwa zwei weitere räuberische Cypriniden, die wie Karikaturen heimischer Fische aussehen. Einer ähnelt vom Schwanz bis zu den Kiemendeckeln dem heimischen Aitel. Doch der Name „Three-Lips“ (Opsariichthys uncirostris) spricht für sich, besser könnte man das grimmige Maul dieses „Gesellen“ wohl nicht beschreiben. 
Skurril finde ich auch den „Flathead Asp“ (Pseudaspius leptocephalus), also „Flachkopf-Schied“, mit seinem spitz zulaufenden Räubermaul (Foto siehe Teil 3). Auf Trockenfliege steigen unzählige „Sawbelly“ (Hemiculter leucisculus), die unserer Laube zum Verwechseln ähnlich sehen. Heimatgefühle kommen auch beim Fang des „Amur Ide“ (Leuciscus waleckii) auf, der äußerlich zwischen Nerfling und Aitel angesiedelt ist, oder der Pekingbrasse (Parabramis pekinensis), die an eine überdimensionale Zope erinnert. Schließlich beißt als Draufgabe ein schlanker Ussuri-Stachelwels (Pelteobagrus ussuriensis) auf einen schwarzen Jig.

Noch ein „Chinese Bass“

Ussuri-Wels (Pelteobagrus ussuriensis) „Three-Lips“ (Opsariichthys uncirostris)
Kopf einer “White Amur Bream” (Parabramis pekinensis) „Sawbelly“ (Hemiculter leucisculus) ähneln unseren Lauben
Besondere Freude kommt auf, als ich schließlich den herausragendsten und angelfischereilich wohl attraktivsten aller Amurfische kennen lerne, von dem ich bereits einiges gehört habe: „Yellowcheek“ (Elopichthys bambusa), ein schlanker Cyprinide mit riesigem spitzen Maul, der vielleicht als Kombination aus Tarpon und unserem heimischen Schied zu beschreiben wäre: Er wird 2 m lang, 60 kg schwer und neigt am Haken zu hundert Meter langen Sprints! Diese Erfahrung bleibt mir leider „erspart“, mein Größter misst nur etwa einen halben Meter. Doch bereits in der Größe offenbart dieser Raubfisch am Haken großes Temperament.

Andrejs Tochter mit einem Yellowcheek (Elopichthys bambusa; unten dessen Kopf)

Viele weitere Arten sind mit der Fliege kaum zu fangen, schon gar nicht in ein paar Tagen. Eine intensivere Beschäftigung mit der artenreichen Fischfauna des Amur wäre eine interessante Aufgabe für Jahre, denn hier lässt sich noch Neuland in der Fliegenfischerei betreten. Doch das muss ich Mikhail Skopets überlassen, der als phantasievoller Fliegenbinder, experimentierfreudiger Taktiker und ausdauernder Fischer in den nächsten Jahren wohl noch so manche Fischart im Amur erstmals mit künstlicher Fliege fangen wird!

Clemens Ratschan

Teil 2 erscheint hier im März 2009.


Ein Bericht von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de. Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten.

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