Yukon 2000 : Angeltage im Paradies 
Vierter Teil:  4. September

von Hans-Werner Schneider


 
Die Fluten des Tatshenshini rauschen, und zwar mächtig. Das wäre an sich nichts besonderes, denn das tun sie ja immer, aber heute ist es das doch: denn wir sind   mitten drin! Und das nicht etwa an Bord eines stabilen, sicheren Bootes, sondern mit dem Auto! – Jawohl , wir sitzen in demselben Pickup, der uns schon gestern den steinigen Weg hin zum Mush-Lake gebracht hat. Und jetzt verstehe ich auch, was Hardy, Besitzer unseres Lodge und unser heutiger Chauffeur, gemeint hat, als ich ihm von unserer abenteuerlichen Schaukelfahrt auf dem Goldgräber-Trail erzählt und er darauf nur lakonisch geantwortet hatte: “Na, dann warte mal ab, wo Du morgen fährst!“ – Wir sind unterwegs um zu prüfen, ob die Rotlachse schon im Fluss sind und ob wir gegebenenfalls ein paar davon fangen können. Und dazu hielt Hardy es eben für notwendig, auf die andere, erfolgreicher zu befischende Seite des Stroms zu gelangen, was aber mangels eines Bootes oder einer Brücke eben nur mittels des bereits erwähnten Allrad-Autos zu bewerkstelligen war. Seichtere Passagen mit weniger  Strömung haben wir zum Glück schon problemlos hinter uns gebracht, aber nun heißt es, die Hauptströmung des Flusses zu queren.
Und so schaukelt sich unser Gefährt eben nun holpernd und stolpernd am steinigen Flussbett entlang zum anderen Ufer hin. Durch die Seitenfenster und die Windschutzscheibe sehe ich die reißenden Fluten bedrohlich nahe, und zu meinen Füßen dringt Wasser von der einen Türseite zur anderen hin. Meinem etwas skeptisch-ängstlichem Blick begegnet Hardy mit Gelassenheit: „Kann nix passieren! Ich habe das Funktelefon dabei. Irgendwer holt uns notfalls schon wieder raus!“ – So getröstet und bis zu dem Zeitpunkt erleichtert, da mir einfällt, dass wir ja auch durch die Fluten wieder zurück müssen, erreichen wir das sichere Ufer und nach einer kurzen, aber diesmal trockenen Holperfahrt auch den Ausgangspunkt für unsere beabsichtigte Lachsangelei.
Da wir heute ohne Hund sind, fordert uns Hardy zu lautstarkem Sprechverkehr untereinander auf, - auch so eine Art von Bären-Frühwarn-System! Außerdem entdecke ich bei den Utensilien, die er auf der Kiesbank am Fluss niederlegt, für den Fall der Fälle eine großkalibrige Waffe.
Wir stehen am Beginn eines langen, tiefen, relativ ruhigen Zuges ausgangs einer deutlichen S-Kurve des Tatshenshini – ein idealer Sammelplatz für aufsteigende Lachse. Dennoch greift auch hier die Strömung sehr früh in die ausgeworfene Schnur und erschwert es der Fliege, rasch zum Grund und zu den Standplätzen der Fische abzusinken. Hardy hat deshalb an seiner Flugleine einfach ein starkes Monofil angebracht und in je einem halben Meter Abstand zwei kräftige Bleischrotkugeln vor die Fliege geklemmt. Dadurch sinkt sie sofort ab, und seine Schnur zeigt kerzengerade hinunter zum vermuteten Fisch. Wird ihr verlangsamtes Abtreiben plötzlich ruckartig unterbrochen oder bleibt die Schnur auch nur einen Moment lang stehen, schlägt Hardy sofort an. Oft tut er es auch bloß auf Verdacht hin. Und meistens hat er Erfolg damit. 
So kämpft auch bald ein starker Lachs an seiner Rute, schießt mit Turbo-Schwanzschlag an der Oberfläche dahin, springt klatschend und spritzend aus dem Wasser, kommt ab oder wird nach energischem Drill gelandet.
Ist es ein „buck“, ein männlicher Rotlachs von ca. 7 – 10 Pfund, dauert der Drill meistens länger und die Gefahr des Abkommens ist größer als bei den etwas leichteren und nicht ganz so temperamentvollen „Damen“. So fängt er in relativ kurzer Zeit eine ansehnliche Zahl herrlicher, bereits ziemlich roter Sockeyes.  Manche sind auch außen gehakt, was einfach auf die Dichte und Anzahl der im Fluss befindlichen Fische zurückzuführen ist.
Horst und ich, die wir Neulinge sind in dieser Art der Fischerei, beobachten es mit Bewunderung und ein wenig Neid, denn unser Fangglück bleibt aus. Horst tut sich zunächst mit der ungewohnten Fliegenrute schwer – am Tatshenshini darf ausschließlich nur mit der Fliege gefischt werden – hat aber trotzdem vor mir den ersten Biss. Etliche Minuten kämpft er – von unseren gut gemeinten aber vielleicht doch nur verwirrenden Kommentaren unterstützt – mit seinem kräftigen Gegenüber, kann ihn aber weder ermüden noch näher bringen und verliert ihn schließlich bei einer weiteren entschlossenen Flucht. 
Ich selbst habe zuerst einmal Schwierigkeiten die Polar Shrimp auf die nötige Tiefe zu bringen. Die Sache mit dem Monofil und den beiden Bleikugeln missfällt mir, weil ich darin zwar eine zugestandenermaßen äußerst erfolgreiche Methode aber keine richtige Fliegenfischerei mehr sehe, was mir Freund Hardy auch augenzwinkernd zugesteht. Also mühe ich mich mit Sinkschnur und bleiverzwirntem Vorfach ab, kann  die Schnur viel schlechter kontrollieren und Bisse nur sehr schwer erkennen und schlage deshalb ständig ins Leere. 
Nach einer kreativen Pause, in der ich Wurf, Schnurführung und Anhieb unseres Lehrmeisters noch einmal genau studiert habe, gelingt auch mir der erste, so heiß ersehnte Lachskontakt. Und dann geht in der Tat  „die Post ab“: mit aller Kraft zieht mein zunächst unsichtbarer Kontrahent davon, krümmt die erstmals eingesetzte 10er Rute zu einem respekteinflößenden Halbkreis und springt dann als herrlicher Rotlachs mit einem kräftigen Schütteln aus dem Wasser, fällt klatschend zurück und stürmt erneut davon. Als ich etwas zögerlich wage, ihn zu bremsen, ist er plötzlich ab. „Wahrscheinlich nur außen gehakt!“, meint Hardy. Meine Enttäuschung ist noch nicht allzu groß, sehen wir jetzt doch immer wieder aktiv gewordene Fische springen.
Fast ehrfurchtsvoll betrachten wir die aus dem Wasser schnellenden rosa oder rot gefärbten Kraftpakete. Die Lachse stehen jetzt so dicht, dass wir schnell wieder neue Hakenkontakte haben. Manchmal drillen wir sogar zu dritt auf einmal und müssen aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig in die Quere kommen und unsere Schnüre sich nicht kreuzen. Aber nur Hardy gelingt es, seine Beute – wenigstens größtenteils – auch an Land zu bekommen. Unsere Drills enden alle nach mehr oder weniger kurzer Dauer. 
Einmal allerdings bin ich mir meiner Sache eigentlich völlig sicher. Über 15 Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, kämpfe ich schon mit einem Lachs, gewinne und verliere Schnur, genieße den herrlich festen Widerstand an ihrem Ende, bange zugleich wegen des ungewissen Ausgangs dieser Aktion, weiche etliche Meter auf dem Ufer zurück, so dass mein Widersacher mir immer näher ans Ufer folgen muss und bin schon zuversichtlich, dass der Sieg dieses Mal auf meiner Seite liegen muss – als der Fisch dann doch noch weniger als einen Meter vor dem Stranden abkommt.
Meine Enttäuschung ist riesengroß: so nahe und doch verloren! 
Zitternd und kopfschüttelnd stehe ich am Ufer und kann es einfach nicht fassen. Als ich mich etwas beruhigt habe und Hardy frage, was ich denn falsch mache, antwortet der: „Du machst zu lange `rum!“ – Sicher hat er recht. Sicher hat es mir an Zutrauen zu dem neuen Gerät und vor allem an Zutrauen zu mir selbst gefehlt. Dennoch habe ich die Drills, die Landschaft am Tatshenshini, die abenteuerliche Hin- und Rückfahrt sowie den Anblick all der springenden Rotlachse mehr als genossen.

Als ich am Abend unserem Chef-Guide und schon Fast-Freund Lonnie bei einem Bier davon erzähle und ihn um Rat für künftig besseren Lachserfolg frage, meint der nur: „Just wind them out!“ – zu deutsch: „Kurbel sie halt raus!“ – So  einfach ist das!

Fortsetzung folgt...