Von Jakutsk nach Ochotsk
Eine Fischereiexpedition auf den Spuren früher Entdecker
Ein Reisebericht von Clemens Ratschan | Teil 2/3: Auf der Judoma

Die Seitentäler des Nitkan hatten uns bisher enttäuscht – sie brachten jede Menge Geschiebe, aber nur wenig Wasser. Einige hundert Meter stromab des für in unserer Reichweite letzten Zubringers tritt bei anstehendem Fels tatsächlich der vertrocknete Fluss wieder einmal zu Tage. Wird er wieder versickern? Wir hoffen inständig, dass es nicht so sein würde, blasen die Boote auf und beladen sie. Tatsächlich haben wir großes Glück: Der Fluss würde von diesem Punkt an nie mehr gänzlich versickern!

Die erste Beladung der Boote


Nach zehn Marschtagen in ein Boot zu steigen bedeutet für unsere Fortbewegung einen Quantensprung – fast mühelos und mit als rasend schnell empfundener Geschwindigkeit bewegen wir uns von nun an lautlos durch die Kraft des Wassers fort. Es gelingt gleich eine Tagesetappe von 45 Kilometern – unterbrochen nur durch wiederholtes Aussteigen zum Treideln über seichte Furten. Etappen bis zu 70 Kilometer werden folgen.

Anfangs müssen wir bei Furten noch häufig aussteigen

Jede Menge Totholz erfordert vorausschauendes Fahren

Die Judoma gewinnt rasch an Abfluss und verändert ständig ihr Bild. Vorerst verzweigt sie sich über ein breites, karges Schotterbett. Mit abnehmender Seehöhe entwickelt sich ein immer höherwüchsiger Baumbestand, zuerst nur Lärchen, dann auch Weiden, Pappeln und Ebereschen. Durch die Verlagerung der Flussarme wird massenhaft Holz mobilisiert, was die Flusslandschaft ganz wesentlich durch Verklausungen und Totholzansammlungen prägt. Vorausschauendes, ständig konzentriertes Boot fahren ist überlebenswichtig, um nicht in reißend angeströmtem Holz zu kentern und zu ertrinken.


Stimmung am Nitkan-Unterlauf

Flusslandschaft am Judoma-Oberlauf

Mehrere Tage setzt kaltes Regenwetter ein

Flusslandschaft am Judoma-Oberlauf

In den kommenden Tagen erreichen wir auch sehr langsam fließende, mäandrierende Flussabschnitte und als landschaftliche Hauptattraktion einen pittoresken Durchbruch, das so genannte „Tor der Judoma“. Bemerkenswert: Auch weit stromab – der Fluss ist im Sommer bereits so abflussstark wie der Unterlauf der Traun oder Enns und die benetzte Breite beträgt im Mittel schon etwa 100 m – gibt es derart breite und seichte Furten (nirgends tiefer als 2 Dezimeter!), dass wir aus den Booten steigen müssen um nicht aufzusitzen. Wie anders schauen doch die regulierten und gestauten Flüsse in unserer Heimat aus! 

Es finden sich viele felsige, fischereilich sehr heiße Stellen 


Einfahrt ins „Tor der Judoma“

Freudiger erster Taimenfang

Leider bleibt in Anbetracht unseres arg strapazierten Zeitbudgets kaum Zeit zum Fischen. Im Ober- und Mittellauf ist dies gut zu verschmerzen: Trotz des glasklaren Wassers ist tagelang kein einziger Fisch zu sehen. Nur in Buchten am Ufer entdecke ich vereinzelt juvenile Äschen, die in dieser kalten Gegend erst auf 3 bis 4 Zentimeter abgewachsen sind (zum Vergleich: die heimische, Europäische Äsche erreicht im ersten Jahr ca. 8 bis 18 cm). Im Sommer gibt es hier also sehr wohl ablaichende Adultfische. Jetzt Anfang September, nur wenige Wochen vor Einbruch des Winters, sind diese aber offensichtlich stromab zu ihren Überwinterungshabitaten gezogen.

Das „Tor der Judoma“

Langsam fließende Abschnitte sind mühsam zu durchpaddeln, wenn täglich 50 km Etappen notwendig sind


Der Fluss taut den Permafrost der Uferböschung auf

Aufgrund des extrem harschen, kontinentalen Klimas in dieser Gegend frieren weite Gewässerstrecken bis zum Grund zu. Unweit unseres Ausgangspunktes liegt der kleine Ort Jutschjugei, bei dem es sich um den weltweit kältesten, ganzjährig besiedelten Ort der Erde handelt. In dieser Gegend wurden Temperaturen bis unter minus 70°C gemessen, und die mittlere (!) Monatstemperatur im Januar liegt bei minus 50 Grad! Das führt zu einer extremen Hydrologie: Der Abfluss der Judoma bei einem Pegel nahe der Mündung beträgt im Monat Juni 1.080 Kubikmeter pro Sekunde, also etwa so viel wie am Inn bei Passau. Im abflussschwächsten Monat März bringt die Judoma hingegen nur 4 m3/s (Minimum Inn: 434 m3/s im Januar)!




Fischerei in den prächtigen Judoma-Stromschnellen


Die saisonalen Wanderungen der Fischfauna führen zu einem interessanten Verhalten unserer fischereilichen Hauptzielart, dem Sibirischen Taimen. Wir treffen diese nahen Verwandten des heimischen Huchens nur in Stromschnellen an, wo sie offenbar als Wegelagerer den stromab wandernden Beutefischen auflauern. Der Erstkontakt gelingt in einer kurzen Paddelpause zum Mittagessen. Jakob wirft einen Blinker in einen tosenden Kolkeinrinn und fängt prompt einen kleineren Taimen von 76 cm Länge.

Kurze Fischereistops in folgenden Stromschnellen führen zu einigen Bissen von deutlich über einen Meter langen Taimen, die nach kurzem Drill aussteigen. Wenige Meter vor meinen Füßen beißt ein weiterer großer Taimen, der Anhieb sitzt, doch der Fisch schafft es, an den spitzen Basaltfelsen das Vorfach zu zerstören. Wie ärgerlich, schließlich haben wir kaum mehr Zeit uns weiter mit der Fischerei zu befassen!

Die letzte Chance folgt erst gegen Ende unserer Judoma-Strecke: Hier bricht der Fluss über eine etwa einen Kilometer lange Kaskade aus Felsrippen, die perfekte Fischeinstände bieten. Im ganz seichten Wasser entdecke ich einen großen Taimen, der sich dort offenbar nach mehreren Tagen Regenwetter sonnt. Ohne Zögern stürzt er sich auf meinen Köder, dreht und windet sich und kann sich leider nach wenigen Sekunden befreien. Das Spiel wiederholt sich noch ein zweites Mal – Biss, kurzer Drill und der Köder wird abgeschüttelt, dann verschwindet der Fisch in der Tiefe. Ich bin schwer frustriert und muss mich niedersetzen, dieser Kapitale wäre doch ein anständiger Lohn für die Schinderei bei der Anreise gewesen!


Hier sonnte sich der Großtaimen im Flachwasser

Nach einer kurzen Pause, Köderwechsel und ohne große Hoffnung folgt noch ein Versuch. Tatsächlich ist der Taimen noch immer nicht vergrämt und fasst erneut zu. Diesmal greift der Haken und ich kann den 1,15 m langen Raubfisch landen. Noch nie zuvor habe ich einen Taimen mit so wunderbar roten Flossen gesehen!



Wunderschön gefärbter Großtaimen (1,15 m)

Kurz darauf bekommt auch Jakob noch eine Chance: In einem „Seitengasserl“, das den wilden untersten Absturz des Katarakts umgeht und wohl sehr häufig von Beutefischen durchwandert wird, stürzt sich etwas großes Rotes aus der Tiefe auf seinen Blinker. Jakob ist am Boden zerstört – tatsächlich verliert auch er den Fisch zweimal hintereinander nach kurzem Drill! Die Fische hier kommen gleich nach dem Biss an die Oberfläche und schütteln wild das Maul. Es ist wie verflixt – das Verheften des Hakens mag trotz eines rasch und mehrfach gesetzten Anhiebs und scharfer, hochwertiger Haken einfach nicht gelingen. Nach zehn Minuten Pause probiert es Jakob noch ein letztes Mal. Unglaublich, aber auch dieser Fisch nimmt den Köder ein drittes Mal. Nie wäre ein heimischer Huchen so unvorsichtig! Es folgt ein filmreifer, Nerven zerreibender Drill mit Kletterübungen und Übergeben der Rute (hoffentlich reibt die geflochtene Schnur nicht an den scharfen Felsen!), der für den Fänger glücklich verläuft: Das Maßband zeigt 1,12 m, das nachfolgende Bild noch einen traumhaft gefärbten Taimen. 

Perfekter Standplatz für Taimen: Das „Seitengasserl“...

... umgeht die Stromschnelle



Jakobs Traumfisch

Bei unseren beiden Großtaimen handelt es sich bereits um kapitale Exemplare. Die Judoma ist ein kalter, nahrungsarmer Gebirgsfluss mit Gletschereinfluss im äußersten Nordosten des Verbreitungsgebiets von Hucho taimen. Tausend Kilometer weiter südlich, ebenfalls im riesigen Chabarowsker Gebiet, gibt es Flüsse, wo auch heute noch Fänge von 30 bis 50 kg Gewicht möglich sind. Hier an der Judoma würden aber auch sehr kapitale Fische höchstens 20 bis 25 kg erreichen. 

Die fischereiliche Bilanz an der Judoma fällt durchaus bemerkenswert aus – in einer Woche nur ca. 3 Stunden gefischt, 3 Fische gefangen, mittlere Länge 101 cm. Welche fischereilichen Sternstunden hätten wir mit mehr Zeit erleben können?!! Kulinarisch kommt uns der Großfisch-Segen weniger entgegen: die gefangenen Fische sind für einen raschen Verzehr zu schwer und werden zurückgesetzt. Die karge Expeditionskost besteht also weiterhin aus den üblichen Bohnen, Linsen und Nudeln.



Wenige Kilometer nach der großen Stromschnelle entdecken wir auf einer Kiesbank ein Fass stehen, neugierig fahren wir ans Ufer und schlagen das darüber geschlagene Tuch zurück. Das Fass ist  halb gefüllt mit eingesalzenen Filets von Taimen und Lenoks (Sibirischen Forellen). Im Wald dahinter finden wir ein Lager, überall liegen Kieferknochen und Wirbel von Taimen herum. Kurz darauf nahen vier wild aussehende Gestalten, es handelt sich um Fischer aus dem ersten Dorf (Yugorenok), das noch ganze 300 Kilometer weiter stromab liegt. Die aufgrund rudimentärer Sprachkenntnisse nur kurze Konversation ist durch wechselseitigen Respekt und Freude geprägt, nach langer Zeit wieder auf Menschen zu treffen. Die Fischer sind so weit stromauf gefahren, um einen intakten Fischbestand zu finden und einen Wintervorrat an Fisch anzulegen. Durch den langen Katarakt können die Einheimischen mit Motorbooten nicht noch weiter stromauf fahren – das ist der Grund, wieso dort noch ein so guter Taimenbestand erhalten ist. Insgesamt ist die Judoma etwa 765 km lang und entwässert ein Einzugsgebiet von knapp 45.000 km2 (halbe Fläche Österreichs), bevor sie über die Flüsse Maja und Aldan in die Lena mündet.

Jäger und Fischer 2 Schlauchboote und 4 Gestalten wie aus einem Spaghettiwestern

Wir haben jetzt nur noch wenige Kilometer zu paddeln, bevor wir uns vom Wasserweg lösen um die Portage über die kontinentale Wasserscheide in Angriff nehmen. Wir sind jetzt schon 275 km die Judoma hinunter gefahren und haben dafür sechs Tage gebraucht. Noch immer ist nicht klar, ob wir nach den vielen Verzögerungen bei der Anreise den Wettlauf gegen die Zeit für uns entscheiden können und vor Ablauf der Visa und Ende der Vorräte Ochotsk erreichen. Lest im dritten Teil, wie es uns bei dieser letzten Etappe ergeht...


Freuen Sie sich schon jetzt auf den 3. und letzten Teil dieses packenden Reise-Abenteuers, den wir im Oktober 2014 an dieser Stelle veröffentlichen...
zu Teil 1:
Von Jakutsk nach Ochotsk - Teil 1



Ein Reisebericht in drei Teilen von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de - August bis Oktober 2014.
Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten.
zurück zu Russland und Asien | zurück zur Übersicht Reise & Report zurück zur Startseite

Copyright © 2014 | www.fliegenfischer-forum.de  |  DAS Fliegenfischen Online Magazin |  Kontakt