Gelbschwanzäschen
Mongolei-Erlebnisse von Gottlieb Eder
Müßiggang ist nicht aller Laster Anfang, sondern schafft Freiraum für Beobachtung. Ausgeblendet den Stressfaktor Zeit, erfreuen sich meine Sinnesorgane auch an einfachen Dingen. Ruhig steht das Wasser in einem buchtförmig erweiterten Altarm des Flusses. Weder brechen aufklatschende Regentropfen die Oberflächenspannung des Stillwassers, noch kräuselt der Wind den Wasserspiegel. Die Wirkung der Strömung an der seichten Innenkurve des Flusses ist zu bescheiden, sie stört nicht den scheinbaren Teich durch den Wasseraustausch.

Zur Inspektion verführt mich das regelmäßige Platschen und Klatschen. Vorsichtig umgehe ich den ungenützten Hafen, um nicht mit meinem Schatten die Fische bei ihren akrobatischen Sprüngen nach den tanzenden Mücken zu verscheuchen. Schleichen, tarnen und täuschen ist mein Ziel. Gebückt wie ein Heuchler pirsche ich zur Böschung des Ufers. Mich hindert nicht der Bodendreck an der robbenden Bauchlage. Getrieben von der Neugier, schiebe ich meinen Kopf über die Kante. Ich genieße den Nahrungserwerb der Schuppenträger unmittelbar vor meinen Augen.

Der Schatten eines knorrigen Astes, armdick und saftlos, zittert einen Scherenschnitt auf der glitzernden Spiegelfläche. Jedes zarte Wegsaugen der Insekten von der Oberfläche oder durch die Sprünge der hungrigen Fische führt zur Beunruhigung der planen Wasserfläche. Die Wellenringe verlaufen vom Zentrum aus mit wachsendem Abstand. Das Muster entspricht einer zunehmend gestreckten Spiralfeder. Überlappend, dämpfend und verzehrend pflanzen sich abwechslungsreich die wunderschönen Bilder fort. Ich genieße die optische Augenweide. Das faszinierende Schauspiel des Naturkinos ist mir ein spannender Zeitvertreib.

Fische sind phantastische Geschöpfe der Evolution. Großartig ist ihre Artenvielfalt. Unbändig ihre Lebensenergie. Hochsensible Sinnesorgane erleichtern den Kreaturen bewundernswerte Anpassung in differenziertesten Nischen. Kiemenatmer sind keine stumpfen Lebewesen. 

Das Fischen bis zur Erlahmung der eigenen Kräfte auszureizen, zeigt bereits Symptome einer dekadenten Grundeinstellung. Misshandlungen des Schuppenträgers während absichtlich verlängerter Drillphasen mit ultraleichten Schnüren oder Vorfächern sind nachweislich eine Tierschinderei. Langatmiges und umständliches Posen mit dem Traumfisch zur Dokumentation im Fotoalbum, das unsachgemäße Herausoperieren der Haken und das rohe Zurücksetzen leiten oft genug einen späteren Tod ein.

Das Fangen und Zurücksetzen – modern als „Catch und Release“ bezeichnet – vermehrt sich wie eine Fischseuche unter den Anglern. Aber diese Methode stößt nicht nur bei militanten Tierschützern auf Ablehnung. Das Geschöpf Fisch wird zum Spielzeug degradiert. Zur persönlichen Lustgewinnung ausgenutzt. Wir Fischer plustern uns über Leben und Tod auf. Zurückgesetzte Speisefische, die das Brittelmaß leicht übertreffen, heiligen als Mitleidsgeste nicht den Zweck. Das Vergnügen der Freizeitgestaltung bleibt, überspitzt formuliert, eine temporäre Schinderei auf Kosten des Schuppenwildes. Viele Opfer sind dem Stress nicht gewachsen. Sie verenden.

Zieht der Landwirt ein klagendes Schwein mit der Schlinge um den Hals hinter seinem Traktor durch den Weiler, dann steht der Bauer mit der groben Sitte vermutlich schon in der nächsten Ausgabe der Regenbogenpresse. Üble Nachrede ist ihm gewiss. Die Anzeige seitens der Tierfreundinnen und Tierfreunde, sie sind häufig keine extremen Vegetarierinnen und Vegetarier und tragen Schuhe aus Leder, landet alsbald auf dem Schreibtisch der zuständigen Behörden.

Eine schwache Lobby haben hingegen die stummen Fische. Die Gesetzgebung sorgt für Verwirrung. Es herrscht ein regional unterschiedlicher Paragraphendschungel. Das Leid von Tieren endet nicht an politischen Grenzen. Die Vielfältigkeit der Fischerei, der Umgang mit diesen Lebewesen kann nicht stur nur von einem Blickwinkel aus beleuchtet werden, es bedarf der ausgewogenen Zusammenschau!

Meiner Meinung nach fände das schwimmende Nahrungsmittel mit den gesunden essentiellen Fettsäuren – nach der Weitergabe mehrerer Generation des arteigenen Nachwuchses – die noble Verwendung in der Bratpfanne.

Die Geisteshaltung und der praktizierte Artenschutz drücken sich am Fischwasser dadurch aus, dass im Sinne der Nachhaltigkeit unser virulenter Beutetrieb unter Kontrolle gehalten wird. Der „Wilde“, so sagt man, fährt täglich mit seinem Boot zum Fischfang. Für jeden Kopf seiner Familie fängt er nur einen Fisch. Zum Überleben reicht das zappelnde Eiweiß. Und morgen versucht er neuerlich sein Glück. Alle seine Register zieht hingegen der „Weiße“, um bis zum letzten Lichtschimmer unzählige Tiere auf die Schuppen zu legen. Er ist ein Sklave seines Fangrausches. Verfallen der lasterhaften Sucht. Ist im Rausch der Völlerei der Magen erst gestopft, vergammelt ungenützt der große Rest seiner Beute.

Wir Petrijünger und die Zunft der Fliegenfischer mit den filigranen Lockmitteln haben es in der Hand, Fischen den gebührenden Respekt zu erweisen. Erlaubt es die Jugend des Fisches, ihn ohne Verletzung schonend zurückzusetzen, dann macht es Sinn.

Nicht einmal zur Silvesterlaune würde es den Grünröcken einfallen, ihr begehrtes Wild nur mit dem Schuss aus dem Narkosegewehr an der Flucht zu hindern. Die Ruhigstellung der kapitalen Geweihträger ermöglicht effektvolle Serien von Nahaufnahmen. Bei jeder Stammtischrunde laufen nach dem Stichwort „Waidmanns Heil“ die Bilder von Hand zu Hand und kein Wildschwein kümmert sich, wenn die Wälder durch Biss- und Fegeschäden darben. Die Hohe Jagd und die Niedrige Fischerei sind trotz der Wesensverwandtschaft des ausgelebten Beutetriebes ein ungleiches Paar, das sich nicht nur an der Differenz der oft horrenden Pachtverträge messen lässt.

Mit List und Tücke gewappnet habe ich in meiner frühen Jugend mit Gleichgesinnten Frösche, Edelkrebse und vor allem Fische für die Aufbesserung der fleischarmen Küche erbeutet. Versorgt mit Tricks und Ratschlägen seitens meines Herrn Vaters. Vom Dorfmetzger erbettelte Schnitzelfleischstücke oder von der seltenen Hausschlachtung diebisch abgezweigte Filets dienten uns Lausbuben noch zur Verbesserung des Schwarzfischereiertrages. Das fleischliche Lockmittel wurde auf einen elastischen Zweig direkt über eine tiefe Rinne im Bachbett aufgespießt. Noch ehe das Gammelfleisch den Verwesungsgeruch durch Mumifizieren verliert, haben unzählige Fliegen ihr Gelege an den Fleischsaft geheftet. Die Insekten kümmern sich nicht um ihre Brut, sind aber genetisch darauf geprägt, ihrem Nachwuchs die besten Startbedingungen in die Wiege zu legen. Fast wie die Maden im Speck mästen sich die Larven auf dem hängenden Nährboden. Das Chaos auf der Falle führt dazu, dass ständig fette Krabbeltiere ihren Halt verlieren. Sie stürzen in das Wasser. Auch unter den scheinbar stummen Fischen spricht sich der mit Eiweißbomben gedeckte Abschnitt herum. Am Höhepunkt des „Madenregens“ entfernte ich als gewitzter jugendlicher Lizenzverweigerer – die knappe Bemessung des Taschengeldes erleichterte das schlechte Gewissen – das „Kotzfilet“ vom luftigen Platz und beförderte es in das strömende Bächlein. Die prächtigsten Forellen fingen wir Rotzlöffel mit dem trainierten Lockmittel. Weidengerten, frisch geschnitten, dienten als funktionsfähige Arbeitsgeräte. Kein Erwachsener ahnte, dass wir, sportlich mit dem Waffenrad der Eltern unterwegs und ein paar Laufmeter Schnur in der Hosentasche, dem lustvollen Beutetrieb frönten.

Gäbe es eine Parade der Süßwasserfische, dann müsste ein Milchner mit seiner Fahne aus der Familie der Äschen den Zug anführen. Unglaublich mächtig ist die Rückenflosse ausgebildet. Ausgestattet mit dem optischen Lockmittel, ist es den Fischmännern eine Kleinigkeit, ihre Auserwählten um die Flossen zu wickeln.

Zwischen den rund zwanzig hellen Flossenstrahlen leuchten auf dunklem Untergrund himmelblaue Flecken. Die regelmäßigen Farbpunkte verschieben sich Richtung Fettflosse allmählich zum Umrissmuster von Amöben oder Würmern. Das kühle Blau der sauerstoffreichen Flüsse wiederholt sich auf der rautenförmigen Schuppenprägung. Mehr als zehn rabenschwarze Pigmentansammlungen konzentrieren sich im ersten Abschnitt hinter dem Kiemendeckel. Sie verteilen sich zu beiden Seiten der Mittellinie. Im Vergleich zu unseren heimischen Äschen ist die Rückenflosse der arktischen Vertreter eine imponierende Hautausstülpung. Aber in puncto Farbenpracht sind die mongolischen Gelbschwanzäschen unschlagbare Schönheiten. Ihr Schuppenkleid ist ein kreativer Meisterwurf der Evolution.
Der leichte Wind beunruhigt geringfügig die „Haut“ des Wassers. Gekräuselt im rhythmischen Muster, reflektiert die Oberfläche das Licht der Sonnenstrahlen. Die Miniwellen blitzen und funkeln den Eiskristallen gleich. Eine Strömungskante konzentriert nicht nur das andriftende Lebendfutter aus der Welt der Insekten, sie garantiert auch das Vorhandensein von schuppigen Schwarmvertretern einen Wasserstock tiefer. Nach altersgemäßer Rangordnung und Wachstumsfreudigkeit geregelt, stehen sie als Schatten im Strömungszug. Sie warten auf den kleinen Schmaus der antreibenden Proteine.

Meine Lieblingsgerte hat sich auf Grund der unpraktischen Transportlänge die Anreise erspart, dafür findet die vierteilige „Travellerrute“ ihren ersten Einsatz am einsamen Fluss. Zart zerfließen die Ringe, wenn das Schuppenvolk winzige Portionen von der Grenzschicht schlürft. Ich entscheide mich für Trockenfliegen mit hellen Flügeln, denn die Belästigung durch die transparenten Blutsauger ist spürbar. Die altersgemäße Weitsichtigkeit und das mangelnde Kurzzeitgedächtnis ergaben den Anstoß, dass ich auf die nützliche Lesebrille verzichtet habe. Für Notfälle, eigentlich eher zum spielerischen Zündeln mittels bikonvexer Linsen geplant, steckt eine klappbare Lupe in der Tasche der vielseitigen Fliegenfischerweste. Der Durchmesser des Öhrs provoziert den befürchteten Augentest. Mit über den Kopf gestreckten Händen soll mir der helle Hintergrund das Einfädeln des Vorfaches erleichtern. Abgestützt mit den nicht benötigten Fingern hilft mir meine Feinmotorik nach lästigen Blindversuchen schließlich zum Erfolg.

Das baumlose Ufer verlangt absolut keine Beherrschung von Kunstwürfen. Zudem kennt der sagenhafte Äschenbestand im jungfräulichen Fluss keine Belästigung durch Menschen. Unmittelbar vor meiner Nase steigen die Fische. Die lächerlich geringe Wurfdistanz ließe auch einen blutigen Anfänger euphorisch jubeln. Nur eine Frage von wenigen Versuchen scheint die erste zappelnde Gelbschwanzäsche am bartlosen Haken zu sein.

Verflixt und zugenäht, ich versäume um Bruchteile einer Sekunde das Zuschnappen der Mäuler. Hat mir der mit fremden Kulturen verseuchte Darm nicht nur den Wasserhaushalt aus den Fugen geworfen, sondern auch den Augendruck nachhaltig verändert? Die Gedanken beunruhigen mein Nervengeflecht. Ich verliere meine Trockenfliegen nach dem federleichten Aufsetzen viel zu rasch aus der scharfen Kontrolle. Zum Traumfischer mutiere ich. Oft verpufft der Anschlag ins Leere. Heikel ist das treibende Planquadrat mit dem Imitat. Steigen Fische im Verdachtsbereich, dann lösen sie einen Anschlagsreflex aus. Beschämend hoch ist die Quote meiner Versager. Andere Äschen wundern sich, dass der wandernde Bissen urplötzlich aus ihrem Sichtfenster dreggt. Erstaunt streben sie wieder ihrem ursprünglichen Standplatz zu. Eingeordnet in die versetzte Reihe warten sie auf neue Anflugnahrung.

Würgt eine Forelle kannibalisch einen jüngeren Artgenossen in den Magen und kann sich anschließend gelassen dem Verdauungsgeschäft widmen, so sind die Äschen stets zur lebhaften Aktivität gezwungen. Die kleinen Portionen ihrer Beute stillen kaum den Hunger. Unermüdlich treibt es die Fettflossenträger durch das Wasser, um sich am aktuellen Nahrungsangebot schadlos zu halten.

Im Vergleich zur launischen Forelle leben die Äschen gerne gesellig im Revier. Mit Vorliebe saugen sie die verschiedenen Larventypen, wie Eintags- und Köcherfliegen oder die großen Vertreter der Steinfliegen, in Bodennähe auf. Kleinstkrebschen bereichern als Köstlichkeit ihren Speiseplan.

Der Schlupf der Nymphen ist zum Beispiel eine gedeckte Festtafel. Ein Schlaraffenland für die Salmoniden. Fast hektisch sammeln sie, im Bereich ihres Stammplatzes, die notwendigen Energielieferanten ein. Zum Aufbau ihrer Zellen brauchen sie das verdaute Eiweiß. Kaum den Energiebedarf zum stetigen Steigen deckt der geringe Fettanteil der Nahrung. Geschickt ergreifen sie die Aufsteiger, die gerade einem Metamorphoseschritt entschlüpfen, erbeuten im Sprung die scheinbar auf dem Wasser tanzenden Insekten bei ihrer lebensgefährlichen Eiablage. Ermattet von der Prozedur der Arterhaltung, ertrinken viele Weibchen. Sie driften in der Oberflächenspannung des Wassers den Fischen direkt ins Maul. Hörbares Schlürfen und anschließendes Buckeln verraten die Aktivität der Schuppentiere.

Berühren sich Strömungen mit differenzierter Geschwindigkeit und beruhigt sich das verwirbelte Wasser nach dem Zusammenfluss, dann fühlen sich die Äschen wohl. Oft bildet sich an der Grenzzone ein schlanker Blasenteppich, der exakt die Futterdrift andeutet. Kleiden grobe Steine als Bremsblöcke der Strömung noch das Flussbett aus, sparen die Fische Kraft hinter der Deckung. Begehrt sind die Strömungsschatten. Die Tiere wissen um die Vorteile.

Flink wechsle ich die Rute von der rechten in die linke Hand und kurble die ausgelegte Länge der Flugschnur wieder auf den Kern der Spule zurück. Nur die Schlaufenverbindung und das konische Vorfach mit der verschmähten Fliege flattern in der Brise. Für einen entfernten und unkundigen Betrachter mag es komisch aussehen, wenn ich einige Male mit der Greifhand durch die Luft fuchtle, um die widerspenstige Schnur zu bändigen. Der haardünne Strich ist aus der Weite nicht zu lokalisieren. Ein Verrückter scheint sich gegen die Attacken der Insekten mit unkontrollierten Bewegungen zu wehren.

Meine Schneidezähne sind zum Abbeißen der Schnur in unmittelbarer Knotennähe nicht geeignet. Aber der an einem Kettchen baumelnde Nagelzwicker schafft es rasch und sauber. Eingeklemmt den Griffteil der Fliegenrute zwischen den Oberschenkeln, fische ich mir mit den freien Händen die Lieblingsdose aus einer Westentasche. Offen liegt die bunte Welt der Kunstfliegen vor mir. Sie erleichtert die Lust am Experimentieren. Leider verkürzt sich erschreckend schnell durch meine „Blindversuche“ und den geringen Erfolg die Spitze des Vorfaches. Im Klartext ausgedrückt heißt es, dass die mongolischen Äschen auf mein Angebot äußerst unzufrieden reagieren.

Ein Schatten, unmittelbar vor meinen Füßen, lässt mich über den mit Fliegen gefüllten Dosenrand blicken. Ich stehe mit der praktischen Wathose bis zu den Knien im Wasser. Der Druck presst mir das dichte Gewebe auf der Strömungsseite kalt an die Beine und im beruhigten Kielwasser hat sich keck eine Gelbschwänzige eingestellt. Kein feines Sediment trübt das Wasser, grobe Steine bilden den Untergrund. Der Zeitraum meines Gustierens und die Überlegungen der rechten Auswahl haben genügt, dass sich das Tier ohne Scheu in die beruhigte Zone wagt. Noch hat der Fisch gute Erfahrung mit den Zweibeinern gesammelt. Er fühlt sich in Sicherheit.

„Mosquito“, „Brown Sedge“ und „Tricolore Palmer“ sowie „Red Tag“ und „Hexe“ fische ich mir in immer größeren Mustern aus den Boxen. Mein Vertrauen in klassische Standardfliegen schwindet erheblich und lässt sich an der immer kürzeren Einsatzdauer messen. Aus den Augenwinkeln heraus verfolge ich unauffällig meine Partner in der Nachbarschaft. Immer wieder verdrehe ich scheinbar gelassen meinen Kopf, um die Leute bei ihrem erfolgreichen Freizeitvergnügen zu beobachten. Ohne Unterbrechung fassen sich die Weichmäuler gerade ihre angebotenen Leckerbissen, um nach heftiger Gegenwehr – die Fische können es nicht wissen, dass sie nicht für das Abendessen bestimmt sind – wieder in die Freiheit entlassen zu werden.

Ich hingegen kämpfe mit meinem inneren Schweinehund. Im dummen Stolz verschiebe ich die längst fällige Begutachtung ihrer Wunderfliege. Im ersten Moment traue ich meinen Augen nicht. Unglaublich ist der Befund des treibenden Riesenköders. Bunt, groß und unsinkbar schwimmt das Ungetüm nur wenige Meter weit mit der Strömung und wird in rascher Folge gleich von mehreren Äschen attackiert. Die Ringe reihen sich wie die aufgefädelten Perlen einer Gebetsschnur. Elegant hebt Ilia die Leine aus dem Wasser. Er legt die Wunderwaffe mit Reserveabstand vor dem geistig gespeicherten ersten Kontakt mit dem Fisch ab. Ungestüm stürzt sich die nächste Fahnenträgerin auf den vermeintlichen Eiweißhappen und hängt nach dem routiniert dosierten Anschlag bombenfest.

Zieht der Fischermann während der Drillphase seinen Fang über den Standort von Kapitalen, dann ist es normal, dass die Gelbschwanzäschen ihren Platz verteidigen. Aggressiv rücken sie dem ohnehin bedauernswerten Opfer auf die Schuppen. Kurz sind die Attacken auf die Gehakten, denn die Quartiertreue engt erheblich den Radius der Verfolgung ein. Passt das Umfeld, sind die Äschen mit ein paar Quadratmetern Revier, in Fließrichtung gestreckt, zufrieden.

Beim kraftvollen Nacken des Fisches braucht es schon langgliedrige Finger, um ihn sicher zu fixieren. An die bulligen Kampfstiere mit den ausgeprägten Muskelpartien erinnert der Übergang zur gefleckten Rückenflosse. Häufig im dezenten Rosa zeigen sich die wunderschönen Fleckenreihen zwischen den Flossenstrahlen der Fahne. Im warmen Kupferrot leuchtet das gekerbte Saumband am Ende der Versteifungselemente. Von den glatten Kiemendeckeln weg schillert der stromlinienförmige Körper vergleichbar der Farbpalette eines Öltropfens auf einer Wasserlache.
Schlagartig ändert sich das metallisch schillernde Schuppenkleid auf Höhe der Fett- und Afterflosse. Goldgelb wie die Zungenblätter einer Sonnenblume oder das Rot der Flügelunterseite der Schnarrschrecken läuft der Schwanzstiel im prächtigen Farbkontrast aus. Auf den großen, stabilisierenden Bauchflossen ergänzen schlanke Farbstreifen, in differenzierten Nuancen, den harmonischen Habitus. Schlicht zusammengefasst: Ein prachtvoller Salmonide.

Zurzeit ist das überlappende Verbreitungsgebiet der Gelbschwanzäschen sowie der Arktischen Äsche, der ich bereits vor vielen Jahren im Einzugsgebiet des mittleren Jenissej nachgestellt habe, völlig unbekannt. Auch der Lebensraum der Brut gilt noch als ungelöstes Fischereigeheimnis. Selten vergreifen sich jüngere Semester an den erfolgreichen Kopien der Heupferde. Den Fischen fehlt noch der goldene Schwanz, obwohl sie schon eine stattliche Länge von geschätzten fünfundzwanzig Zentimetern aufweisen. Noch nicht ausgeprägt ist der farbliche Aufputz ihres Schuppenkleides als erotisches Signal der Geschlechtsreife.

Eine Art von dicht gepresstem Schaumstoff mit der Materialeigenschaft von elastischem Gummi bildet den Körper der Monsterfliege. Zwei Lagen in verschiedenen Farben und zugeschnitten. Aufgepfropft ein Köpfchen mit Kontrast. Die arteigene Dreiteilung von Kopf, Rumpf und Hinterleib der Insekten entsteht durch das Einbinden von sensiblen Beinchen. Eingeschnürt wackeln die Extremitäten bereits bei der geringsten Bewegung. Ihr Spiel verführt die Gelbschwanzäschen zum gierigen Steigen. Die poppigen Farbtöne reizen nicht nur die Äschen zum Angriff, sondern erleichtern gar einem Einäugigen den sicheren Kontakt am Ende des Vorfaches. Geschätzte vier Zentimeter lang ist das Ungetüm. Gebunden auf einen schlanken Streamerhaken. Trotz der ungewöhnlichen Länge sind die Äschen ganz verrückt auf die bunten Imitate der Schnarrschrecken. Einer Signalboje gleich schwimmt unsinkbar die berühmte Fliege auf dem Wasser. „Tschernobyl“ ist ihr makabrer Name.

Bestens angepasst an das verdorrte Steppengras sind die fleckigen Beine der Hüpfer. Nur ihre Hinterflügel leuchten blutrot während des torkelnden Fluges. Typisch, halt den Frauen arteigen, schnarrt das weibliche Geschlecht nicht nur im Sitzen, sondern auch während der eher kurzen Flugphasen. Diese Schnarrschrecken sind keine gewandten Flieger. Geringe Windböen versetzen sie unfreiwillig vom Kurs. Es ist für mich ein Leichtes, die flatternde Schallquelle mit der Signalfarbe im Luftraum zu verfolgen. Probleme bereiten mir die aufgescheuchten Insekten nur, wenn sie nach der unbeholfenen Landung in der Vegetation wieder schweigen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interpretieren den Lärm als Drohgebärde gegenüber Fressfeinden und als Balzgesang zur Anlockung der flügellahmen Männchen. Verunglückten Schrecken bleibt keine Frist, um sich mit ihren kräftigen Beinchen ans Ufer zu strampeln. Zu dicht ist der Bestand an Gelbschwanzäschen. Es lohnt sich für die Fische, diese mächtigen Hüpfer von der Oberfläche zu schnappen. Ein einziges Heupferd ersetzt Hunderte von Mücken. Verständlich wird der Futterneid unter den Artgenossen.

Die Unsicherheit bezüglich Fliegenwahl treibt viele Zunftkollegen in die geschäftstüchtigen Fänge der Hersteller von filigranen Kunstwerken. Ein unglaublich reichhaltiges Sortiment verführt die Kundschaft zum Kauf. Geschickte Reportagen in den Fachzeitschriften pushen die Besitzwünsche oder verleiten zum Nachbau. An peniblen Materiallisten mangelt es nicht. Ständig vermehren sich die prall gefüllten Boxen, Dosen und Behältnisse. Die Selbstbeschränkung schwimmt den Bach hinab. Ständig nach Befriedigung lechzt der genetisch veranlagte Sammeltrieb. Die Vielfalt der Fliegenattrappen verwirrt die Entscheidung am Fischwasser. Lähmend wirkt die Qual der Wahl.

Perfektionistinnen und Perfektionisten schwören auf identischen Nachbau der Insekten. Sie vergessen nicht auf die sechs Beinchen und kopieren gar das Gewicht ihres Kunstwerkes auf der eigens angeschafften Apothekerwaage. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Wie ein präpariertes Original schaut der Nachbau aus. Andere Expertinnen oder Experten halten es lieber mit kontrastreichen Mutationen aus der Vielfalt der krabbelnden, schwimmenden und fliegenden Insektenwelt. Wie so oft im Leben scheint auch auf diesem Sektor der goldene Mittelweg das erfolgreichste Rezept zu sein. Die vielen Faktoren, die sich erfreulicherweise nicht wissenschaftlich festlegen lassen, erhöhen die Faszination an der Fischerei. Angeblich rechnet der Herrgott die gefühlsbetonte Zeit am Fischwasser nicht in die vom Schicksal bestimmte Lebenszeit ein. Die nasse Waid ist schlechthin ein Jungbrunnen und gilt – von den Stubenhockern belächelt – als exzellente Naturmedizin.

Im Buch „Hohe Schule auf Äschen und Forellen“ weist das praxisorientierte Autorenteam Stoll und Gebetsroither auf die Bedeutung der Hakengröße folgendermaßen hin:
Große Haken sind gerade beim Äschenfischen die Ursache vieler Fehlbisse. Das leicht unterständige Maul der Äsche bildet beim Einsaugen der Fliege eine relativ kleine Öffnung. Nimmt der Fisch nicht gerade besonders gierig und zielsicher, geschieht es oft, dass sich große Fliegen am Rand des Mauls stoßen und gar nicht eingesaugt werden. Der Anhieb geht zwangsläufig daneben. Auf der anderen Seite ermöglicht eine kleine Fliege wegen der Anatomie des Äschenmauls ein leichtes Einsaugen, und der Haken sitzt nach dem Anhieb meist tadellos. Wenn trotzdem manche Fliegenfischer kleinere Fliegen als Hakengröße sechzehn ablehnen, so liegt dies daran, dass sie über einen schlecht dosierten Anhieb verfügen. Sie agieren unnötigerweise mit so viel Krafteinsatz, dass sie jeden kleineren Haken aufbiegen oder das Vorfach abschlagen.

Die mongolischen Gelbschwanzäschen scheinen die Fachliteratur nicht gelesen zu haben, denn sie stürzen sich geradezu vehement auf die verblüffend großen „Gummifliegen“...


Nachfolgend weitere Reiseimpressionen, wenn Sie mögen...
Anm.d.Red.: Den kompletten Bericht der Mongolei-Reise des Autors finden Sie in seinem neuesten Buch "Fernweh mit Biss | Abenteuer Mongolei (Reise Thriller)" auf 192 Seiten. Eine detaillierte Buchbesprechung dazu finden Sie hier: (KLICK)



Ein Reisebericht von Gottlieb Eder für www.fliegenfischer-forum.de - Juni 2015.
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